GROSSE STILLE, DIE | Die große Stille
Filmische Qualität:   
Regie: Philip Gröning
Darsteller: Die Mönche der Grande Chartreuse
Land, Jahr: Deutschland 2005
Laufzeit: 162 Minuten
Genre: Dokumentation
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
Auf DVD: 10/2006


JOSÉ GARCÍA
Foto: X-Verleih

Film und Stille: zwei Begriffe, die kaum gegensätzlicher sein könnten. Nicht umsonst heißt der Film in Hollywood – und der Hollywood-Film prägt ja noch immer vielfach die globale Filmkultur – „Movie“. Mit dem Namen „Movie“ wird jedoch nicht nur Bewegung, sondern, spätestens seit der Entdeckung der Dolby-Surround-Technik, auch eine laute Tonspur assoziiert.

Philip Gröning betitelt seinen Dokumentarfilm über das Leben in der Grande Chartreuse „Die große Stille“, wobei „Stille“ nicht in erster Linie mit „Stillstand“ gleichzusetzen ist, obwohl die Bilder manchmal schon wie eingefroren wirken.

Über die Entdeckung der Langsamkeit hinaus, durch die der Wechsel der Jahreszeiten und der Tagesrhythmus in der Kartause verdeutlicht wird, spielt „Stille“ auf das „große Schweigen“, auf das Schweigegelübde im Kartäuserorden an. Philip Gröning unternimmt den Versuch, einen Film ohne Musik, (fast) ohne Interviews, ohne Kommentare und ohne zusätzliches Material zu drehen. Eine Texttafel mit der berühmten Stelle aus dem 1. Buch der Könige, die mehrmals eingeblendet wird, dient denn auch dem Film als Motto: „Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leichtes Säuseln.“

Allein die Bilder – im Wechsel mit den insgesamt 18 Texttafeln, die in gewissem Rhythmus wiederholt werden – sollen das Leben des stillen Gebetes verdeutlichen: „Die Wiederholung der Texttafeln ist eine Methode, um dem Leben im Kloster näher zu kommen“, führt Gröning im Gespräch mit dem Autor dieser Besprechung aus. Der Regisseur möchte allerdings keine Reportage liefern, die das Leben der Kartäuser im Einzelnen erklärt. „Die große Stille“ erschließt dieses Leben eher durch ein Mosaik von Impressionen: Der Zuschauer sieht die Mönche in ihren Zellen beten und arbeiten, immer wieder den Gang durch den Kreuzgang in die Kapelle nehmen, um am gemeinsamen Gebet teilzunehmen. Besonders die Bilder im Halbdunkel der Kapelle beeindrucken zutiefst, die – so Philip Gröning – „in der tiefen Dunkelheit des Kinos besonders stark erlebt werden können.“

Für die Dramaturgie des Filmes stellte sich als glücklicher Zufall heraus, dass in den sechs Monaten, die der Regisseur in der Grande Chartreuse verbrachte, um die Filmaufnahmen zu machen, auch zwei Novizen aufgenommen wurden. Die ergreifende Zeremonie konnte dadurch in „Die große Stille“ eingebaut werden.

Ebenfalls dramaturgisch wirkungsvoll und rhythmisierend zugleich fügt der Regisseur Großaufnahmen der Mönche ein. Dazu führt Philip Gröning aus: „Die Idee der Portraits ist zunächst dadurch entstanden, dass ich selber am Anfang der Dreharbeiten absolut nicht wusste, wie ich mit mir selber und der Präsenz der Kamera in diesem Kloster umgehen sollte. Die Entscheidung, die Portraits zu drehen, war für mich der Sprung über eine Schwelle, in die direkte Konfrontation Mönch/ Kamera. Ein zweiter Gedanke war: Kloster ist Raum, in dem an reiner Präsenz gearbeitet wird. Präsenz Gottes, aber auch der Menschen. Gegenwart. Und die Gegenüberstellung der Zuschauer mit der puren Gegenwart der Mönche, dem Blick: Das ermöglicht auch für den Zuschauer den Übergang aus der Narration in die Präsenz. Öffnet also den Raum der Erzählung in einen Raum der Begegnung, der Meditation, der eigenen Teilhabe.“ Der unendliche Friede, den diese Gesichter ausstrahlen, spricht darüber hinaus für ein geglücktes Leben.

In der Kombination der hochauflösenden Bilder (HD) mit grobkörnigen Aufnahmen einer Super 8-Kamera drückt der Regisseur eine weitere Dimension aus: „Das ist natürlich keine Kombination, die sich bewusst erschließt. Bewusstes Verstehen ist hier nicht wichtig. Quasi physisches Erfahren ist wichtig. Der Gedanke hinter dem Einfügen des Super 8-Materials war: Ein Kloster, vor allem eines, in dem seit mehr als 900 Jahren das Leben quasi unverändert geführt wird, das ist ein Raum, der eher mit Ewigkeit zu tun hat. Ewigkeit Gottes, Annäherung an diese Ewigkeit in der Kontinuität des Klosterlebens. Und dieses Anhalten der Zeit ist im Bau des Klosters anwesend, im Licht, im Stein. HD verstärkt diese Ruhe, Schönheit. Ich wollte aber nicht, dass der Zuschauer sich vollkommen in diesem Gefühl der angehaltenen, harmonischen und ewigen Zeit verliert, sondern dass auch ein Gefühl für die andere Ebene der Zeitlichkeit bleibt: Das Flüchtige, unabänderlich vergehende unserer Lebenszeit. In den Super-8-Bildern, die ja sofort als nicht ganz gegenwärtig, als vergänglich (bzw. vergangen) empfunden werden, bleibt diese Ebene des Vergehens im Film anwesend.“.

Auf die Frage, warum die Eucharistie im Film auffallend wenig Raum einnimmt, antwortet der Regisseur: „Die Eucharistie nimmt deshalb einen so kleinen Teil ein, weil sie so wahnsinnig schwer abzubilden ist. Natürlich ist sie das Kernstück des katholischen Glaubens, natürlich auch das Kernstück im liturgischen Leben der Kartäuser. Aber die Eucharistie ist in sich ein Geheimnis. Dieses Mysterium ist nicht abbildbar, ist nur umkreisbar. Durch Andeutung, auch durch Auslassung. Es ist ein Raum, den jeder selber füllen muss. Dafür reicht die kurze Sequenz. Wirklich zu zeigen, wie die Eucharistie in den Ritus der Messe eingebunden ist; das ist nicht kurz zu schaffen. In der Phase des Schnitts tauchte immer wieder die Frage auf: Zeige ich eine Nachtmesse ganz? Mache ich den Film aus einer einzigen Nachtmesse? Auch möglich. Allerdings war mir am Ende wichtiger, dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, selber diesen Zeit/Raum ‚Kloster’ zu erfassen, als eine Detailtreue der liturgischen Abläufe.“

Mehr als ein Dokumentarfilm ist „Die große Stille“ trotz seiner Länge von 160 Minuten – oder vielleicht deshalb? – eine Meditation über das Leben, über das Gebet und auch über den Tod, zu der die wunderbaren Aussagen eines Mönchs wesentlich beitragen. Es ist das einzige Gespräch, das als „Interview“ bezeichnet werden könnte.
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