WINTERKINDER – DIE SCHWEIGENDE GENERATION | Winterkinder – Die schweigende Generation
Filmische Qualität:   
Regie: Jens Schanze
Darsteller: Mitwirkende: Antonie Schanze, Horst Schanze, Kerstin Schanze, Bärbel Schanze, Annette Schanze, Andrea Schanze, Edith Lehmann, Janina Zalas
Land, Jahr: Deutschland 2005
Laufzeit: 99 Minuten
Genre: Dokumentation
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
Auf DVD: 7/2006


JOSÉ GARCÍA
Foto: Tiberius Film

Dass (Film-)Autoren in ihrem Erstlingswerk häufig eine Art Suche nach der eigenen Identität betreiben, ist hinlänglich bekannt. Bei Regisseur Jens Schanze (34) führte diese Suche in die Vergangenheit der eigenen Familie, in die Verstrickung seines Großvaters in den Nationalsozialismus.

Jens Schanze stellt seiner Mutter eine weitreichende Frage: „War Großvater ein Nazi?“ Schanze ist mit seinem Kameramann nach Hause zurückgekehrt. Es ist ein bürgerliches Haus wie viele andere, in denen Millionen Familien leben. Schon diese ersten Bilder suggerieren: Der Regisseur will zwar die Geschichte seiner eigenen Familie erzählen, sein Dokumentarfilm mag zwar in einem persönlichen, ja intimen Rahmen spielen, aber diese Geschichte betrifft genauso andere Familien.

Denn zwischen der öffentlichen und der privaten Wahrnehmung herrscht ein offensichtliches Missverhältnis, glaubt doch laut einer Emnid-Umfrage aus dem Jahre 2002 fast die Hälfte aller Deutschen, dass ihre eigenen Angehörigen dem Nationalsozialismus kritisch gegenüber standen.

Für die Familie und insbesondere für Frau Schanze beginnt eine aufwühlende Reise in eine jahrzehntelang verdrängte und verschwiegene Vergangenheit: „Im Nachhinein denke ich“, führt Jens Schanze dazu aus, „dass es in unserer Familie eine Art Stillschweigeabkommen gab, nicht über die Großeltern in Verbindung mit Nationalsozialismus und Antisemitismus zu sprechen.“ Erst als Mutter Schanze im Jahre 1999 nach Niederschlesien fuhr, und erstmals nach dem Krieg den Ort besuchte, in dem sie aufgewachsen war, änderte sich diese Einstellung.

Der Regisseur begleitet nun seine Mutter nach Dresden, wo sie im Jahre 1939 eingeschult wurde, sowie ins niederschlesische Neurode (heute polnisch Nowa Ruda), wo ihre Familie von 1939 bis 1945 lebte. Auf diese Weise nährt sich Schanze der Geschichte seines Großvaters an.

Um sie zu rekonstruieren, hat Jens Schanze etwa aus der Münchener Staatsbibliothek und dem Berliner Bundesarchiv Dokumente zusammengetragen, vor allem jedoch liest er seiner Mutter aus den zahlreichen erhaltenen Briefen des Großvaters vor.

Aus diesen Briefen und aus alten Familienfotos sowie aus dem Gespräch mit seinen vier älteren Schwestern versucht der Regisseur, das Bild des Großvaters, der bereits im Jahre 1954 bei einem Autounfall ums Leben kam, neu zu entwerfen. Daraus wird deutlich, dass der Bergbauingenieur bis zuletzt ein überzeugter Nazi-Funktionär blieb, der sich auch als Stadtrat und Redner für die NSDAP betätigte. So berichtet der Großvater selbst von seinen Hetzreden gegen die Juden bei lokalen Parteitreffen sowie von Durchhalteparolen: „Wir müssen den Krieg gewinnen, sonst ist alles verloren. Helft alle mit, den Krieg zu gewinnen“, schreibt er etwa am 5. Februar 1944.

Die Filmreise führt schließlich zum Konzentrationslager Groß-Rosen nahe dem ehemaligen Wohnort der Familie Neurode. Schanzes Mutter weint, hofft indes noch immer, dass ihre Eltern nichts davon gewusst haben. Aber auch diese Hoffnung wird durch einen Brief ihrer Mutter vom 2. Februar 1944 zunichte gemacht: Sollten die 30 000 dort eingesperrten Juden durch die Russen befreit werden, würden sie sich fürchterlich rächen, schreibt sie.

Im Laufe des Films wird Schanzes Mutter die Schuld ihres Vaters immer deutlicher. Der Regisseur nimmt jedoch in keinem Augenblick eine verurteilende Haltung ein, sondern sucht eher nach Erklärungen für dieses Schweigen. „Ich bin der Meinung“, so sagt er, „dass man diesen Film nicht über eine fremde Familie drehen kann, weil es ja gerade darum geht, nicht bei anderen, sondern bei den eigenen Vorfahren nach Verbindungen zum Nationalsozialismus zu suchen. Ich wollte diese Tendenz, immer von ‚den Nazis’ zu sprechen, so als sei es jemand anders gewesen, überwinden.“

Die häufig eingesetzte Handkamera und die einfache Bildgestaltung verstärken die Authentizität von „Winterkinder“, der zum Teil eine Art therapeutische Funktion für die Familie übernimmt: Sechzig Jahre nach Kriegsende hat das Schweigen in der Familie Schanze ein Ende. An die Stelle des Verdrängens tritt ein Dialog zwischen der Kinder- und der Enkelgeneration, bei dem eine neue Hoffnung aufkeimt, die in den letzten Bildern der wieder vereinten Familie zum Ausdruck kommt.
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