OLIVER TWIST | Oliver Twist
Filmische Qualität:   
Regie: Roman Polanski
Darsteller: Barney Clark, Ben Kingsley, Jamie Foreman, Harry Eden, Leanne Rowe, Lewis Chase, Edward Hardwicke, Jeremy Swift, Mark Strong
Land, Jahr: Frankreich / Großbritannien / Tschechien 2005
Laufzeit: 128 Minuten
Genre: Literatur-Verfilmungen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
Auf DVD: 8/2006


JOSÉ GARCÍA
Foto: Tobis

Neben „Eine Weihnachtsgeschichte“ (1843), „David Copperfield“ (1849–1850), „Eine Geschichte zweier Städte“ (1859) und „Große Erwartungen“ (1860 –1861) gehört „Oliver Twist“ zu den bekanntesten Werken des englischen Schriftstellers Charles Dickens (1812–1870). Der 1837–1839 als Fortsetzungsroman erschienene Jugendliteratur-Klassiker wurde seit den Anfängen des Kinos bereits mehrfach verfilmt: Nach den Stummfilmadaptionen aus dem Jahr 1909 beziehungsweise 1922 (Regie: Frank Lloyd) entstand unter der Regie von David Lean im Jahre 1948 die als klassisch geltende Oliver Twist-Verfilmung mit Alec Guinness als Bandenanführer Fagin. Die Musicalfassung „Oliver!“ (1968) erhielt im Jahre 1969 sechs Oscars – darunter als „Bester Film“ und für „Beste Regie“ – und wurde in fünf weiteren Kategorien nominiert.

„Oliver Twist“ erzählt die Geschichte eines Waisenjungen, der zu Beginn der industriellen Revolution in Großbritannien im Alter von neun Jahren als billige Arbeitskraft in eine staatliche Manufaktur gebracht wird. Eines Tages wird Oliver durch das Los dazu bestimmt, nach dem Essen um einen Nachschlag zu bitten. Wegen dieser „Dreistigkeit“ verkaufen ihn die „Fürsorger“ als Gehilfe an einen Totengräber, in dessen Werkstatt er von einem älteren Lehrling gequält wird. Nach einer Schlägerei zwischen Gehilfe und Lehrling gelingt Oliver die Flucht nach London. In der Großstadt gerät der Junge in die Fänge des Hehlers Fagin, der eine Art Diebstahl-Schule betreibt, in der der Absonderliche „seine“ Straßenjungen als Taschendiebe ausbildet.

Nach seinem großen Erfolg „Der Pianist“ (2002) verfilmt nun Roman Polanski Charles Dickens „Oliver Twist“, wobei der Regisseur eine durch und durch klassische Inszenierung wählt, die sich bereits im Vorspann ankündigt: Begleitet von klassischer Musik erscheint auf der Leinwand eine Abfolge von Gustave Doré-Stichen, die in Realaufnahmen hinüberwechseln.

Der Realismus zeigt sich indessen nicht allein in einem bis ins kleinste Detail etwa des aufwändigen Stadtprospekts Londons liebevoll gestalteten Produktionsdesign. Insbesondere die Grau in Grau -Farbgebung in den dunklen Interieurs der ärmlichen Häuser und in den schmutzigen Hinterhöfen der Industriestadt erzeugt eine düstere, dichte Atmosphäre, die mit den hellen Tönen der wenigen Landschaftsbildern in den Anfangsepisoden sowie mit den hellsten, an der Grenze zum Kitsch stehenden Farben der vornehmen Vorstadt beim Happy End kontrastiert.

Allerdings durchbricht Polanski – wie Dickens selbst – diesen Realismus durch das Stilmittel der Figurenüberzeichnung, etwa des Gemeindebüttels Mr. Bumble oder der Anstaltleiter. Insgesamt besitzen die aus der Augenhöhe Olivers betrachteten Erwachsenen einen Hang zur Lächerlichkeit, der den sozialkritischen Ton des Romans mildert, obwohl die sich an den akribisch rekonstruierten Dekors weidende Kameraführung insgesamt zu wenig Nahaufnahmen bietet, die den Figuren psychologische Tiefe hätten verleihen können.

Dies trifft insbesondere für den Oberschurken Bill Sykes zu, der in der Musical-Version von 1968 von einem grandiosen Oliver Reed als furchterregende, aber auch innerlich zerrissene Figur gestaltet wurde. In der Polanski-Verfilmung wirkt Jamie Foreman in dieser Rolle eindimensional. Ben Kingsley verkörpert Fagin, äußerlich getreu der Romanvorlage, als eine ambivalente Mischung aus dem verschlagenen Bandenführer in David Leans Verfilmung und dem liebenswerten Gauner in der Musicalfassung. Der 13-jährige Barney Clark überzeugt hingegen in seinem Schauspieldebüt in der Hauptrolle des schmächtigen Jungen mit den großen Augen.

Polanski behält zwar die episodenhafte Struktur der Romanvorlage bei, dem Regisseur gelingt es indes kaum, zu einem gleichmäßigen Erzählrhythmus zu finden: Besteht das erste Drittel in einer schnellen Abfolge kleinerer Episoden, die kaum in die Persönlichkeitsentwicklung Olivers eingebunden werden, so besitzt der Mittelteil einen einheitlicheren narrativen Charakter. Dieser wird freilich wiederum von einem Schlussakt mit konventioneller Abenteuerfilm-Dramaturgie abgelöst, in der die Spannung zudem von der Musik emotionalisierend gesteigert wird.
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