ESMAS GEHEIMNIS (GRBAVICA) | Grbavica
Filmische Qualität:   
Regie: Jasmila Žbanić
Darsteller: Mirjana Karanović, Luna Mijović, Leon Lucev, Kenan Catic, Jasna Ornela Berry, Bogdan Diklic
Land, Jahr: Österreich / Bosnien-Herzegowina / Deutschland / Kroatien 2005
Laufzeit: 90 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: S


JOSÉ GARCÍA
Foto: Ventura Film

In „Das geheime Leben der Worte“ (siehe Filmarchiv) schilderte die spanische Regisseurin Isabel Coixet unlängst die Möglichkeit, das von der Protagonistin Hannah während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien erlebte traumatische Ereignis in Worte zu fassen.

Daran scheint das Spielfilmdebüt der bosnischen Regisseurin Jasmila Žbanić „Esmas Geheimnis (Grbavica)“ anzuschließen, das bei den Filmfestspielen Berlin 2006 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde und nun im regulären Kinoprogramm startet.

Die Kamera fährt zu Beginn von „Esmas Geheimnis“ über die Gesichter vieler schlafender oder eher meditierender Frauen. Später wird der Zuschauer erfahren, diese Frauen sitzen in einem Zentrum für die Opfer des Krieges, in dem ihnen psychologische und auch etwas finanzielle Hilfe geboten wird.

Doch die Kamera bleibt zunächst bei einer Frau mittleren Alters, der Protagonistin Esma (Mirjana Karanović), stehen. Esma ist eine allein erziehende Mutter, die mit ihrer pubertierenden Tochter Sara (Luna Mijović) in einer kleinen Wohnung in Sarajewo wohnt. Esma kümmert sich liebevoll um ihre Tochter, die ein ganz normales Leben führt: Sie erlebt die erste Verliebtheit und freut sich besonders auf die anstehende Klassenfahrt.

Diese stellt allerdings Esma vor ein größeres finanzielles Problem: Wie soll sie die für die Klassenfahrt benötigten 200 Euro auftreiben? Sara könnte zwar einen Zuschuss für die Reise bekommen, wenn sie ein Zertifikat vorlegen kann, dass ihr Vater ein „Schehid“, ein im Bosnien-Krieg Gefallener, war. Esma scheint jedoch kein großes Interesse zu haben, die Behörden um eine solche Bescheinigung zu bitten. Stattdessen sucht sie lieber Arbeit als Bedienung in einem Nachtclub. In diesem Etablissement, wo sich die Neureichen vergnügen, lernt sie den Leibwächter Pelda (Leon Lučev) kennen. Da Pelda im Krieg seinen Vater verloren hat, fühlen sie sich zueinander angezogen.

Die Hartnäckigkeit, mit der Esma der Frage nach der Bescheinigung jedes Mal ausweicht, macht Sara stutzig – und mit ihr den Zuschauer. Irgendetwas stimmt nicht mit Esmas und Saras Vergangenheit. Darüber hinaus häufen sich hin und wieder Anzeichen – die Panikattacken, die sie bei Rangeleien mit Sara erleidet, etwa, oder überdeutlich: die Narben auf ihrem Rücken –, die auf das im deutschen Filmtitel ausgedrückte dunkle Geheimnis hinweisen. In einem Selbsthilfezentrum sprechen sich Frauen wie Esma über ihre Traumata aus, anschließend singen sie sich „Ilahijas“ vor, muslimische Klagelieder.

Obwohl Jasmila Žbanić ähnlich Isabel Coixet in „Das geheime Leben der Worte“ dem Zuschauer Rückblenden auf Esmas Pein erspart, werden die Gräuel der Vergangenheit deutlich.

„Während des Krieges wurde Grbavica, ein Stadtteil von Sarajewo, von der serbisch-montenigrinischen Armee besetzt und zu einem Kriegslager umgewandelt, in dem die Zivilbevölkerung gefoltert wurde“, führt Regisseurin Jasmila Žbanić zum Hintergrund des Filmes aus. „Während des Krieges wurden in Bosnien 20.000 Frauen systematisch vergewaltig. Ich wohnte damals 100 Meter von der Front entfernt und hatte schreckliche Angst vor dieser Art des Kampfes. Seitdem wurden Vergewaltigung und die Konsequenzen daraus für mich zu einer Obsession.“

Zwar ist der Balkankrieg, der seinen Höhepunkt 1991/92 erreichte, seit vielen Jahren beendet. Mit ihrer distanzierten, teils scheinbar unbeteiligten Kameraführung, die vieles gleichsam beiläufig einfängt, gelingt es jedoch der Regisseurin, die Wunden der Vergangenheit offenzulegen. So etwa, wenn die Kamera Esma vorbei an zerschossenen Häuserfassaden entlang begleitet. Aber nicht nur die Ruinen im Stadtbild erschweren den Alltag im heutigen Sarajewo. Auch Frauen wie Esma werden immer wieder von der Erinnerung an die erlittene Gewalt eingeholt.

Genauso wenig, wie „Esmas Geheimnis“ in eine plakative Anklage verfällt, gibt sich der Film dem Pessimismus hin. Denn neben der offenkundigen Trauer keimt doch noch, ohne in Sentimentalitäten abzugleiten, Hoffnung auf einen Neuanfang in der Mutter-Tochter-Beziehung auf. Deshalb ist „Grbavica“ vor allem eine Liebesgeschichte zwischen Mutter und Tochter, die besonders eindringlich in der Szene zum Ausdruck kommt, in der Esma von Saras Geburt erzählt.
Diese Seite ausdrucken | Seite an einen Freund mailen | Newsletter abonnieren