VITUS | Vitus
Filmische Qualität:   
Regie: Fredi M. Murer
Darsteller: Teo Gheorghiu, Bruno Ganz, Julika Jenkins, Urs Jucker, Fabrizio Borsani, Tamara Scarpellini, Kristina Lykowa, Eleni Haupt, Daniel Rohr, Norbert Schwientek
Land, Jahr: Schweiz 2006
Laufzeit: 120 Minuten
Genre: Familienfilme
Publikum:
Einschränkungen: --
im Kino: 12/2006
Auf DVD: 11/2007


José García
Foto: Schwarz-Weiss

In ihrem Spielfilmdebüt „Das Wunderkind Tate“ (1991) erzählt Jodie Foster vom sieben Jahre alten Fred Tate, der nicht nur hochkomplizierte Rechenaufgaben löst, sondern auch meisterlich Klavier spielt. Weil ihm aber in der Schule weder Lehrer noch Schüler gewachsen sind, wird er zum Außenseiter. „Das Wunderkind Tate“ handelt vom Kampf eines Hochbegabten um einen angemessenen Platz im Leben.

Fünfzehn Jahre später nimmt sich dieses Sujets der 66-jährige Schweizer Regisseur Fredi M. Murer in „Vitus“ an. Schon im Kindergartenalter liest Vitus im Brockhaus. Komplizierte Mathematikaufgaben löst er im Vorbeigehen, und Klavier spielt er ebenfalls wie ein Wunderkind. Nur, dass Vitus nicht allzu gerne als Wunderknabe vorgeführt wird: Als der Junge für die Partygäste seiner Eltern ein Stück von Schumann spielen soll, weigert er sich. Vitus möchte lieber ein normaler Junge sein.

Dabei verläuft sein Leben zunächst einmal bestens: Er wohnt bei seinen liebevollen Eltern in einer schönen Wohnung in Zürich. Zwar geht sein Vater (Urs Jucker) im Beruf vollends auf, aber dafür gibt seine Mutter (Julika Jenkins) ihre Berufstätigkeit auf, um sich einer ehrgeizigen Karriere zu widmen: Vitus soll Pianist werden. Ein „normales Leben“ bietet dem kleinen Wunderkind indes sein kauziger Großvater (Bruno Ganz) in seiner Schreinerei.

Ist diese erste Hälfte von „Vitus“ mit beinahe dokumentarischer Strenge inszeniert, so kommt durch einen Drehbucheinfall von Regisseur Fredi M. Murer und seinen Mit-Drehbuchautoren Peter Luisi und Lukas B. Suter eine märchenhafte Komponente ins Spiel. Im Gespräch mit dem Autor dieser Besprechung erläutert Fredi M. Murer, diese Drehbuchwendung besitze durchaus autobiografische Züge: „Als Kind bin ich einmal auf den Kopf gefallen. Ich habe diese Situation schamlos ausgenutzt, um nicht in die Schule zu müssen.“ Auch Vitus stürzt sich in seinem „Batman“-Kostüm vom Balkon. Danach scheint er seine besonderen Begabungen verloren zu haben.

Die Mischung aus Fast-Dokumentarischem und Traumhaftem geht in „Vitus“ auf, insbesondere dank der Schauspielleistung der zwei Hauptakteure: Bruno Ganz genießt sichtlich seine Rolle als liebenswerter Großvater, der die Fantasie seines Enkels beflügelt, und dabei von ihr angesteckt wird.

Als wahrer Glücksfall erweist sich aber Teo Gheorghiu, der Darsteller des zwölfjährigen Vitus: Nach langer Suche nach einem hochbegabten Klavierspieler fand Murer den Jungen in London, wo Teo Gheorghiu die Purcell-School für musikalisch hochbegabte Kinder besucht. „Das Dokumentarische zeigt sich etwa in der Schlussszene, wo der jetzt 14-Jährige mit dem Zürcher Kammerorchester vor 1400 Zuhörern im großen Saal der Züricher Tonhalle selbst das Schumanns Klavierkonzert spielt“, erläutert dazu der Regisseur.

In „Vitus“ zeigt Teo Gheorghiu außerdem schauspielerische Begabung. Durch den ganzen Film hindurch behält er eine Mischung aus Verträumtheit und Unbeirrbarkeit bei, die ihn als den erfahrenen, erwachsenen Darstellern ebenbürtig erscheinen lässt. Aber auch Fabrizio Borsani, der den sechsjährigen Vitus verkörpert, zieht mit seinen großen Augen und seiner Natürlichkeit den Zuschauer in seinen Bann.

Von genretypischen Filmen, etwa von Jodie Fosters „Das Wunderkind Tate“, unterscheidet „Vitus“ allerdings die Poesie, die vor allem in den Szenen der Freundschaft zwischen dem Jungen und seinem Großvater liegt. Dadurch wird „Vitus“ zu einem berührenden Familienfilm, ohne in Sentimentalitäten abzugleiten.

Darüber hinaus ist „Vitus“ laut Regisseur Murer „in erster Linie eine Liebeserklärung an die inspirierende und versöhnliche Kraft der Musik. Aber ebenso auch eine Liebeserklärung an die ‚Sehnsucht des Lebens nach sich selbst’, die sich in der Kindheit und Jugend am reinsten, vitalsten und vor allem am eigenwilligsten manifestiert.“ Für diese „Sehnsucht des Lebens nach sich selbst“ setzt Murer die Metapher des Fliegens ein: Der Großvater träumt sein ganzes Leben vom Fliegen und überträgt diesen Traum auf seinen Enkel.

In der Schweiz wurde „Vitus“ zu einem solch durchschlagenden Publikumserfolg, dass ihn die Schweiz offiziell für die Nominierungen des „Oscar als bester nicht-englischsprachiger Film“ vorgeschlagen hat.
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