VIER MINUTEN | Vier Minuten
Filmische Qualität:   
Regie: Chris Kraus
Darsteller: Monica Bleibtreu, Hannah Herzsprung, Sven Pippig, Richy Müller, Jasmin Tabatabai, Stefan Kurt, Vadim Glowna, Nadja Uhl, Peter Davor, Edita Malovcic
Land, Jahr: Deutschland 2006
Laufzeit: 112 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: Erwachsene
Einschränkungen: U
im Kino: 2/2007
Auf DVD: 9/2007


José García
Foto: Piffl Medien

Vergangenheitsbewältigung gehört zu den immer wiederkehrenden Sujets im Spielfilm. Das Kino liebt vom Schicksal gezeichnete Figuren auf der Suche nach Erlösung von der eigenen Vergangenheit, so etwa zuletzt im dänischen Film „Nach der Hochzeit“ (siehe Filmarchiv). Im nun anlaufenden deutschen Spielfilm „Vier Minuten“ begegnen dem Zuschauer zwei Frauenfiguren, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten, die jedoch beide an traumatischen Erlebnissen schwer zu tragen haben, ob sich nun diese in weit zurückliegender oder aber in einer erst viel jüngeren Vergangenheit zugetragen haben.

Die achtzigjährige Traude Krüger (Monica Bleibtreu) gibt seit Jahrzehnten Klavierunterricht in einem Frauengefängnis in Brandenburg, wo sie eines Tages die wegen Mordes einsitzende, junge Jenny von Loeben (Hannah Herzsprung) kennen lernt. Dass Jenny wirklich Talent besitzt, begreift Frau Krüger sofort. Aber auch, dass die junge Frau ihr Talent unter einer rauen, ja selbstzerstörerischer Schale verbirgt: Bevor Jenny überhaupt auf dem Klavier zu spielen beginnt, bekommt sie einen Anfall und schlägt einen Wärter auf brutalste Weise.

Die Dame aus „alter Schule“, die auf Manieren – etwa auch auf einen Knicks – und gepflegte Ausdrucksweise größten Wert legt, erachtet es als ihre Pflicht, Jenny auf einen Klavierwettbewerb vorzubereiten, an dem sie trotz ihrer Haftstrafe teilnehmen darf. Sofern sich die junge Frau auf ihre Regeln einlässt: „Für die Art Unterricht, die ich Ihnen anbiete, ist Demut unerlässlich. Demut ist die Regel Nummer Eins, das werden Sie lernen müssen. Sie werden tun, was ich Ihnen sage. Sie werden sich nicht beklagen, nicht mit Worten, nicht mit Blicken, niemals.“ Jenny lässt sich darauf ein, weil sie darin irgendeine Chance in ihrer sonst aussichtslosen Situation erkennt.

Die Vorbereitung auf den Wettbewerb wird zu einem aufreibenden psychologischen Wettstreit zwischen der aufsässigen Jenny und ihrer preußisch strengen Klavierlehrerin. Im Laufe dieser Auseinandersetzung reißen alte Wunden wieder auf: Jenny wurde Opfer einer inzestuösen Beziehung, Traude leidet noch immer unter dem Verrat an ihrer lesbischen Liebe, den sie zur Zeit des Nationalsozialismus übte. Mittels Rückblenden wird diese weit zurückliegende Tat erzählt, als im jetzigen Gefängnis ein Lazarett eingerichtet war, wo sie als Krankenschwester arbeitete. Wegen der unkritischen Art, in der dem Zuschauer dieses lesbische Verhältnis nahegebracht wird, ist allerdings der Film für Jugendliche leider kaum geeignet.

In ihren traumatischen Erfahrungen erkennen die Schülerin und die Lehrerin Ähnlichkeiten über ihren verschiedenen Charakter und den großen Alterunterschied hinweg. Drehbuchautor und Regisseur Chris Kraus macht es sich indes nicht leicht. Denn „Vier Minuten“ ist keine genretypische Geschichte, in der ein Lehrer mittels Musik schwererziehbare junge Menschen heilt. Sein Drehbuch nimmt sich viel differenzierter aus. Dieses fein austarierte Buch über ein komplexes Verhältnis von Anziehung und Abstoßung setzt die Kamerafrau Judith Kaufmann mit grobkörnigen Bildern visuell um. Gerade die rauen, entsättigten Bilder insbesondere auch in den immer wieder eingestreuten Rückblenden erwecken das latente Gefühl unbewältigter Erlebnisse, das in offene oder unterschwellige Aggressionen mündet

Trotz dieser Rückblenden wirkt die Erzählung in „Vier Minuten“ geradezu geradlinig. Dazu trägt entscheidend die karge Ausstattung bei, die wie alles andere im Kraus’ Film die Konzentration auf die zwei Hauptfiguren begünstigt. Denn „Vier Minuten“ lebt in hohem Maße von der brillanten Schauspielkunst der 62-jährigen Monica Bleibtreu, die nicht nur hinter den tiefen Falten der Maske, sondern auch in ihrer gebückten Haltung um Einiges älter wirkt, und der geradezu aggressiven Körpersprache der bislang unbekannten Hannah Herzsprung.

Obwohl die Welt, in der „Vier Minuten“ spielt, lange Zeit als ein unbehauster Ort erscheint, lässt Chris Kraus, zwar ohne falsche Gefühle und billiges „Happy End“, so doch einen Hoffnungsschimmer aufleuchten.
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