MANN OHNE VERGANGENHEIT, DER | Mies vailla menneisyyttä
Filmische Qualität:   
Regie: Aki Kaurismäki
Darsteller: Markku Peltola, Kati Outinen, Juhani Niemelä, Kaija Pakarinen, Sakari Kuosmanen, Tähti
Land, Jahr: Finnland 2002
Laufzeit: 97 Minuten
Genre: Komödien/Liebeskomödien
Publikum: ab 6 Jahren
Einschränkungen: -


JOSÉ GARCÍA
Foto: Pandora Film

Im gegenwärtigen europäischen Kino ragt das Oeuvre des finnischen Regisseurs Aki Kaurismäki (geb. 1957) als besonders einheitlich und stimmig hervor: Ob es sich um moderne Versionen klassischen Stoffes wie „Hamlet goes Business“ (1987) oder „Das Leben der Bohème“ (1992), um witzige Roadmovies wie „Leningrad Cowboys Go America“ (1989) oder „Tatjana“ (1993), oder aber um das Leben des schlichten Arbeiters wie „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ (1989) oder „Ariel“ (1988) handelt – im Mittelpunkt der Filme des international gefeierten Regisseurs stehen stets einfache Menschen aus Fleisch und Blut. Bei allen realistischen Zügen, die Kaurismäkis Figuren aufweisen – diese zeichnen sich stets durch eine im heutigen Kino kaum sonst zu findenden Würde aus. Der finnische Filmhistoriker Peter von Bagh nennt ihn „einen Autor, der um die einfachen Dinge des Lebens weiss, deren Verständnis so erstaunlich selten geworden ist: Nächstenliebe, Solidarität und die Einsicht, dass finanzieller Mangel nicht jeden automatisch zum Vollidioten macht, und deshalb jedes menschliche Wesen Würde besitzt.“ Es dürfte kaum übertrieben sein, Aki Kaurismäki als einen der grössten Humanisten unter den heutigen Filmautoren zu bezeichnen.

Den vorläufigen Höhepunkt in Aki Kaurismäkis Filmschaffen bildete „Wolken ziehen vorüber“ (1996), eine einfache Geschichte über Arbeitslosigkeit, die der heutigen Spassgesellschaft kaum entgegengesetzter sein könnte. Sie berührte Menschen in ganz Europa, nicht zuletzt weil sie mit dem Kaurismäki eigenen scharfsinnig-lakonischen Humor erzählt wurde. Hatte sich der Kultregisseur in „Wolken ziehen vorüber“ wie bereits in seinen früheren Filmen mit dem Erdgeschoss der Gesellschaft beschäftigt, so führt ihn seine neueste Arbeit „Der Mann ohne Vergangenheit“ in deren Untergeschoss, in eine Welt von Verstossenen und Ausgegrenzten.

Eine Zugfahrt ist alles, woran sich der Mann ohne Namen und ohne Vergangenheit erinnern kann, der nach einem brutalen Überfall das Gedächtnis verlor. Liebevoll gepflegt von Obdachlosen, die in einer Containersiedlung Unterschlupf gefunden haben, richtet er sich in einem vom Nachtwächter „inoffiziell“ vermittelten Container häuslich ein. Bei einer Essensausgabe lernt der Namenlose die scheue Heilsarmistin Irma kennen. Eine romantische Liebesgeschichte bahnt sich an, ehe der Mann ohne Vergangenheit doch noch von dieser eingeholt wird.

Diese kleine Erzählung voller poetischer Melancholie entfaltet Kaurismäki mit seinen gewohnten Ausdrucksmitteln: mit den satten Farben etwa der grünen oder roten Hemden, die der Gedächtnislose trägt, mit dem Witz einer Situationskomik, die ihn zu einem würdigen Nachfolger der Klassiker aus der Stummfilmära macht, mit lakonischen, aber pointierten Dialogen und mit einer Musik, die sich nie in den Vordergrund drängt und trotzdem die Geschichte inhaltlich vorwärts bringt.

Wie bei kaum einem anderen Regisseur steht bei Kaurismäki der Mensch im Mittelpunkt. Keine Technik soll von ihm ablenken: Das einzige Auto, das irgendeine Rolle spielt, stammt eher aus den Fünfzigern als aus den Sechzigern. Der Kühlschrank, die Jukebox, die Telefonapparate... alle Geräte bleiben im Hintergrund, ihr Besitz hat mit menschlichem Glück nicht das Geringste zu tun. Worin dieses Glück besteht? Nachdem der Gedächtnislose wieder zu Kräften gekommen ist, unterhält er sich mit der Frau, die ihn mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in ihrer ärmlichen Behausung gepflegt hat. Unvermittelt sagt sie: „Wir haben Glück gehabt. Mein Mann hat jetzt eine Arbeit, er ist Nachtwächter. Er arbeitet zwar nicht jeden Tag, aber zum Leben reicht es. Und in einem, zwei Jahren können wir uns um eine Sozialwohnung bewerben.“ Kein ironischer Unterton und auch keine rührselige Stimme mischt sich darin: Hier spricht ein für sein kleines Glück dankbarer Mensch. Anti-mainstreamiger kann ein Filmemacher kaum mehr sein.

Zum Wiedererkennungseffekt in den Filmen Kaurismäkis tragen entscheidend die Schauspieler bei, allen voran Kati Outinen, die seit „Ariel“ (1988) die weiblichen Hauptrollen in seinen Filmen spielt, ohne die Miene zu verziehen, und hier zum ersten Mal den Ansatz eines Lächelns zeigt. Der Namenlose wird von Markku Peltola dargestellt, der in „Wolken ziehen vorüber“ sowie in „Juha“ (1999) in Nebenrollen zu sehen war. Weitere Figuren von „Der Mann ohne Vergangenheit“ sind mit Darstellern wie Sakari Kuosmanen, Elina Salo, Outi Mäenpää besetzt, die bereits in „Wolken ziehen vorüber“ und „Juha“ zu Kaurismäkis Schauspiel-Ensemble gehörten. Selbst der im Juli 1995 verstorbene Matti Pellonpää erscheint mittels einer Fotografie auf der Leinwand – eine kleine Hommage des Regisseurs an den Held seiner früheren Filme.

„Der Mann ohne Vergangenheit“ gewann bei den Filmfestspielen Cannes 2002 den Grossen Preis der Jury und den Preis für die beste Darstellerin (Kati Outinen). Die European Film Academy hat den Film für den am 7. Dezember zu verleihenden Europäischen Filmpreis 2002 in sechs Kategorien nominiert. Darüber hinaus wurde er mit dem neu gestifteten Filmpreis des Nordischen Rates mit der Begründung ausgezeichnet, Kaurismäki schildere darin “auf originelle Weise und mit grosser Intensität die Menschenwürde und gegenseitige Solidarität”.
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