LENIN KAM NUR BIS LÜDENSCHEID | Lenin kam nur bis Lüdenscheid
Filmische Qualität:   
Regie: André Schäfer
Darsteller: (Mitwirkender) Richard David Precht
Land, Jahr: Deutschland 2007
Laufzeit: 92 Minuten
Genre: Dokumentation
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 6/2008


José García
Foto: W-Film

Vierzig Jahre „68“: Im Laufe des Jahres ist darüber schon vieles geschrieben worden. Eine Betrachtung aus einem etwas anderen Blickwinkel bietet Richard David Precht in seinem 2007 erschienenen Erinnerungsbuch „Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Meine kleine deutsche Revolution“ (List-Verlag, 350 Seiten), das nun unter demselben Titel als von Florianfilm, WDR und SWR koproduzierter Dokumentarfilm im Kino startet.

Buch und Film erzählen in der Ich-Form. Die Off-Stimme Richard David Precht begleitet den Film vom Kölner Dokumentarfilmregisseur André Schäfer von Anfang an: „Das bin ich“, heißt es etwa zu einem Foto des Autors als Vierjähriger. „Solingen 1968“.

Geboren wurde Richard David Precht am 8. Dezember 1964. Es war das Jahr, in dem eine letzte gesamtdeutsche Mannschaft an den Olympischen Spielen teilnahm. Aber am Tag, als Precht geboren wurde, fand in Ingelheim auch eine Sitzung mit weitreichenden Folgen statt. Dort wurde die Lieferung einer chemischen Verbindung in die Vereinigten Staaten beschlossen, mit der dort das berühmt-berüchtigte Entlaubungsmittel „agent orange“ hergestellt wurde, die für den Tod oder die schwere Erkrankung von Millionen Vietnamesen verantwortlich wurde.

Für die Erinnerungen von Richard David Precht spielt der Vietnam-Krieg eine zentrale Rolle. Darin zeigt sich bereits der Ton des Filmes: Eine Abrechnung mit seinen Eltern und deren Idealen will Precht gar nicht liefern. Der Vietnam-Krieg dient der Elterngeneration als Legitimation für jeglichen Antiamerikanismus.

Dass die Haltung seiner Eltern für den Schüler auch seine Schattenseiten hatte, zeigt etwa die Episode mit dem Taschenrechner eindrucksvoll: In den 70er Jahren führten die Schulen einen Taschenrechner für die Mathematik-Arbeiten ein. Weil aber die Marke des Arbeitsgerätes „Texas Instruments“ hieß, verbot es Mutter Precht. So musste Richard als Einziger in der Klasse ohne Taschenrechner antreten. „Der Streit um den TI-30 setzte mir zu. Es waren weniger die Debakel bei den Klassenarbeiten als etwas ganz anderes. Der Fortschritt war mit einem Mal in den Händen der anderen.“

Im Film kommt auch der ehemalige Mathematiklehrer zu Wort. Diesen Vorteil spielt denn auch der Dokumentarfilm aus. Erzählt das Buch lediglich aus der Sicht des Autors, so kann der Film auf weitere Erzählperspektiven, etwa aus der des ehemaligen DKP-Kreisvorsitzenden Frank Knoche, der mittlerweile als parteiloser Abgeordneter für die GRÜNEN im Solinger Stadtrat sitzt.

Vor der Kamera sagen denn auch unter anderem Richards Vater und Geschwister aus, etwa Marcel, den die Eltern aus Vietnam adoptierten. Damals war es eine kleine Sensation: Der WDR drehte deshalb eine Reportage, die ebenfalls in den Dokumentarfilm integriert wird. Regisseur André Schäfer fügt die Ich-Statements des Autors mit den grobkörnigen Archivbildern, den Interviews und einigen Bildermontagen zusammen.

In Richard David Prechts Kindheit spielte der Fußball nicht nur eine sportliche Rolle. In einem WDR-Interview führt er dazu aus: „Es gibt einige Fußballszenen, die mir sehr am Herzen liegen. Für mich war Fußball so wichtig, weil es da Momente gab, wo alles aufging ... Wenn die DDR 1974 bei der WM gegen die Bundesrepublik gewonnen hat, oder wenn Oleg Blochin von Dynamo Kiew den Bayern tolle Tore eingeschenkt hat. Das waren für mich erhebende Momente, wo ich dachte, ja, die Linke hat gesiegt. Meistens konnte man das Gefühl ja nicht haben.“ Um dies zu verdeutlichen, lässt etwa Regisseur André Schäfer zu Sparwassers Tor bei der WM 1974 die DDR-Hymne erklingen.

Einen besonderen Platz nimmt in Prechts Erinnerungen an den „Deutschen Herbst“ ein. Die tiefe Spaltung, die für die Linken die mordende RAF hervorrief, beschreibt er folgendermaßen: „Auch meine Eltern waren betroffen. Die Rücksichtslosigkeit und Brutalität der RAF widerten sie zutiefst an. Für Marxisten wie meine Eltern waren die Terroristen die ersten Zeitgenossen, denen man in keinem Fall mehr folgen konnte und wollte. Sie hinterließen eine tiefe Ratlosigkeit.“ Nach dem deutschen Herbst war „die Geschichte der Linken nun keine aufsteigende Linie mehr und zu einem festgelegten Ziel. Das Schlimmste daran war, dass die Linken von nun an immer nur bremsen wollten, statt zu überholen.“

Als eigentliches Ende seiner Kindheit bezeichnet Precht den Mauerfall. Obwohl er damals bereits 25 Jahre alt war, bedeutete der 9. November 1989 für ihn ein einschneidendes Ereignis, das seine bisherige Weltsicht erschütterte.

Eine Abrechnung mit der „68“-Generation liefert „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ zwar nicht. Dafür beleuchtet aber der Film einige Aspekte dieser Weltsicht, die zu deren Verständnis beitragen.
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