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JOSà GARCÃA Selten schafft ein Dokumentarfilm den Weg in die Programmkinos und erst recht kaum in die kommerziellen Lichtspielhäuser. Drei Dokumentarfilme des letzten Jahres â allesamt französische Produktionen â scheinen indes ein neues Interesse für diesen bislang stiefmütterlich behandelten Zweig der Filmkunst geweckt zu haben: Jacques Perrins âNomaden der Lüfteâ, Agnès Vardas âDer Sammler und die Sammlerinâ und Nicolas Philiberts âSein und Habenâ. Letzterer zog in Frankreich sensationelle 1,5 Millionen Zuschauer an. Zudem wurde er im Dezember 2002 auf der 15. Europäischen Filmpreis-Verleihung in Rom mit dem Europäischen Dokumentarfilmpreis âPrix Arteâ ausgezeichnet. âSein und Habenâ dokumentiert ein Jahr Unterricht in einer Ein-Klassen-Schule in Saint-Etienne-sur-Usson. In dieses Dorf der südfranzösischen Auvergne verschlug es vor zwanzig Jahren Georges Lopez, den Sohn eines andalusischen Emigranten. Seitdem unterrichtet er in einem einzigen Klassenraum Kinder zwischen vier und zwölf Jahren gleichzeitig. In diesem Jahr, dem vorletzten vor seiner Pensionierung, sind es dreizehn Schüler, aufgeteilt in drei Gruppen: Während die Ãlteren Bruchrechnen üben und die MittelgroÃen lesen, hilft Monsieur Lopez den ABC-Schützen malen. Gerade für sie und vor allem für die ungeduldigen, stets in Bewegung befindlichen Jojo und Marie muss der Lehrer viel Zeit aufwenden. Trotzdem kann Monsieur Lopez nicht immer dabei sein, etwa wenn die Zwei einen Stuhl an den Kopierer schieben, um eine Seite aus einem dicken Buch zu kopieren â und die Kopie leider eins ums andere Mal schwarz herauskommt. Dass eine solch einfache Szene überaus spannend sein kann, gehört zu den wunderbaren Erkenntnissen dieses kleinen groÃen Dokumentarfilmes. Bei Georges Lopez lernen die Kinder nicht nur lesen, schreiben und rechnen, sondern auch so praktische Dinge wie Pfannkuchen backen. Darüber hinaus, wie ein ehemaliger Schüler sagt, lehrt er âRespekt und Ausgeglichenheit durch seine Art, rücksichtsvoll mit uns umzugehenâ. Der Lehrer nimmt sich Zeit für âseineâ Kinder: Mit einem der schon etwas Ãlteren sitzt er einmal auf der Bank im Garten. Der Junge hat Angst vor der voraussichtlich tödlichen Krankheit seines Vaters. Monsieur Lopez hört ihm zu, versucht ihm Kraft und Hoffnung zu geben. Nathalie fürchtet sich vor der weiterführenden Schule, auf die sie nächstes Schuljahr wechseln soll. âIch werde weiterhin für Dich da sein, samstags kannst Du zu mir kommenâ, macht er ihr Mut. âSein und Habenâ findet im Wechseln der AuÃen- und Innenaufnahmen einen ausgewogenen Erzählrhythmus. Die meisten Aufnahmen entstanden naturgemäà in dem einen Klassenraum, wo das kleine Filmteam, wie Philibert sagt, eine âwohlwollende Neutralitätâ bewahrte: Sie griffen niemals ins Geschehen ein. Die Kinder schienen schnell vergessen zu haben, dass sie dabei waren â obwohl ab und zu eines direkt in die Kamera schaut. Vom morgendlichen Einsammeln der Kinder mit dem Kleinbus im tiefsten Winter über den Ausflug im Frühsommer bis zur Kennenlern-Visite bei der weiterführenden Schule, die von den Ãlteren nächstes Schuljahr besucht werden soll, reichen die Aufnahmen im Freien. Manchmal zeigen diese auch die unfreiwillig komischen Versuche einer ganzen Familie, dem Jungen bei den Mathematikaufgaben zu helfen. Mit bewusst einfachen filmischen Mitteln vermittelt Philibert in âSein und Habenâ das Bild eines Pädagogen, der bei aller Nähe zu den Sorgen und Nöten seiner Schüler jene Respektperson bleibt, die sich in der Anrede âMonsieurâ ausdrückt. Ein Lehrer, der sich nicht davor scheut, erziehen zu wollen, weil er seinen Beruf als Berufung sieht, weil er seine Schüler ins Herz schlieÃt. |
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