11’09’’01 | SEPTEMBER 11
Filmische Qualität:   
Regie: Alain Brigand
Darsteller:
Land, Jahr: Frankreich 2002
Laufzeit: 130 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: S-


JOSÉ GARCÍA


Kaum ein Datum der jüngsten Vergangenheit hat sich ins kollektive Bewusstsein so eingeprägt, keine anderen Bilder haben sich in unser Gedächtnis so eingebrannt wie die Fernsehbilder vom 11. September 2001. Im Zusammenhang mit den Attentaten in New York und Washington wurde viel über die Wechselwirkungen zwischen Realität und Fiktion geschrieben, wobei letztere hauptsächlich die Horrorszenarien im Hollywoodfilm meinte.

Die kurzfristige Reaktion Hollywoods bestand darin, einige bereits abgedrehte Filme, die in irgendeiner Weise mit der Katastrophe in Verbindung gebracht werden konnten, zu verschieben. Bestes Beispiel lieferte hierzu „Der Anschlag“, bei dem eine Terrororganisation ein Attentat mit einem Atomsprengkopf auf ein vollbesetztes Football-Stadion in den Vereinigten Staaten verübt. Von der Filmindustrie wurde jedoch mehr erwartet: Da sie immer wieder solche Szenarien heraufbeschwört hatte, wurde als ihre Pflicht angesehen, eine angemessene Antwort auf „den ersten Katastrophenfilm, der Wirklichkeit geworden ist“ zu geben, wie sich der französische Regisseur Claude Lelouch ausdrückt.

Die Antwort des Kinos kann keine andere sein, als bewegte Bilder zu liefern, die ein Nachdenken über das Geschehene ermöglichen. Dies war das erklärte Ziel des französischen Fernsehproduzenten Alain Brigand, als er zwei Regisseurinnen und neun Regisseure aus aller Welt bat, einen Beitrag zu liefern. Einzige Vorgabe: „Ein Film, der 11 Minuten, 9 Sekunden und 1 Bild – 11’09’’01 – dauert und sich um die Ereignisse des 11. September und ihre Folgen dreht.“

Brigand versammelte elf bekannte und (in Europa) weniger bekannte Autoren aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen. Dies sind in der Reihenfolge ihres Beitrags: Samira Makhmalbaf aus dem Iran, Claude Lelouch aus Frankreich, Youssef Chahine aus Ägypten, Danis Tanovic aus Bosnien (sein „No Man’s Land“, mit dem er dieses Jahr den Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film gewann, soll im Februar endlich ins deutsche Kino kommen), Idrissa Ouedraogo aus Burkina Faso, Ken Loach aus England, Alejandro González Inárritu aus Mexiko, Amos Gitaï aus Israel, Mira Nair aus Indien, Sean Penn aus den Vereinigten Staaten und Shohei Imamura aus Japan. Eine repräsentative Auswahl des Weltkinos, möglicherweise.

Die elf Beiträge fallen selbstverständlich sehr unterschiedlich aus, sowohl in künstlerischer als auch in politischer Hinsicht. Dass all diese Kurzfilme in irgendeiner Form mit politischem Kino zu tun haben, liegt an der Natur des Projektes: Sie alle versuchen, die Tragödie von 11. September 2001 aus einem globalen Blickwinkel zu betrachten. Was auch bedeutet, den Schmerz, den die Vereinigten Staaten an diesem 11. September erlitten, in den Kontext der Gewalt zu stellen, der Menschen auf der ganzen Welt zum Opfer fallen. So erklärt etwa Idrissa Ouedraogo: „Die Ereignisse des 11. September sind dramatisch, aber es gibt Schlimmeres in der Welt. Ich relativiere die Dinge. Jedes Menschenleben muss wichtig sein. Das Leben derer, die im World Trade Center gestorben sind, ist genauso wichtig wie das Leben der Kinder, die in der ganzen Welt verdursten.“ Als Ganzes schmälert der kollektive Film „11’09’’01’’ nicht schon dadurch die Trauer eines Volkes, dass er sie in einen weltweiten Zusammenhang stellt.

Einige dieser Beiträge überschreiten allerdings den schmalen Grat zwischen Relativieren und Minimieren. So etwa Shohei Imamura, dessen Kurzfilm die Rückkehr eines japanischen Soldats vom Zweiten Weltkrieg als Geisteskranker zeigt, oder auch Ken Loach. Der englische Regisseur lässt einen in London lebenden Chilenen auftreten, der von einem anderen 11. September spricht: von 11. September 1973, als – in Loachs pamphletartiger Lesart – der menschenfreundliche Allende durch die CIA und ihren Strohmann Pinochet gestürzt wurde. Dadurch, dass beide Regisseure den Blick auf Gewaltakte der Vereinigten Staaten lenken, legen sie den Schluss nahe, sie rechtfertigten die Anschläge.

Verstörender noch wirkt der Kurzfilm des einzigen Regisseurs aus den Vereinigten Staaten: Sean Penn, einer der größten amerikanischen Schauspieler der Gegenwart, wie seine Rollen etwa in „Dead Man Walking“ und „Der schmale Grat“ zeigen. Penn skizziert das Leben eines alten Witwers – dargestellt von Kinolegende Ernest Borgnine, der buchstäblich im Schatten der Zwillingstürme lebt. Weil die Türme kein Licht in die Wohnung einfallen lassen, sind sogar die Blumen verwelkt. Ausgerechnet am 11. September verschläft der alte Mann; er wird von der Sonne geweckt, die er in seiner Wohnung so lange vermisst hatte. Wenn dann die Sonne sogar die Blumen wieder erblühen lässt, scheint die Grenze des guten Geschmacks längst überschritten zu sein.

Auch filmisch gehen die elf Episoden weit auseinander: Vom künstlerisch sicher anspruchvollen Beitrag Inárritus, der aber eher einer Installation als einem Film gleicht, bis zu den stimmigen Erzählungen Tanovics über die Frauen, die am 11. eines jeden Monats in Srebenica demonstrieren, und Nairs Film über eine New Yorker Familie pakistanischer Herkunft, die ins Visier der Terroristenfahndung gerät. Besonders anrührend aber nimmt sich der Beitrag der erst 22jährigen Samira Makhmalbaf aus, in dem eine Lehrerin afghanischen Kindern in einem iranischen Flüchtlingslager versucht, die Dimensionen des Anschlags vom 11. September zu verdeutlichen. Nach ihrem Debütfilm „Der Apfel“ und nach „Schwarze Tafeln“ zeichnet sich die junge iranische Regisseurin als eine der ganz großen Hoffnungen des internationalen Kinos ab.

Trotz aller Verschiedenheit stellen die Episoden von „11’09’’01“ Wege dar, die Katastrophe vom 11. September 2001 mit den Mitteln des Kinos in einem großen Zusammenhang einzuordnen. Es wird sicherlich nicht der einzige Versuch bleiben.



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