LORNAS SCHWEIGEN | Le Silence de Lorna
Filmische Qualität:   
Regie: Luc Dardenne, Jean-Pierre Dardenne
Darsteller: Arta Dobroshi, Jérémie Renier, Fabrizio Rongione, Alban Ukaj
Land, Jahr: Belgien / Frankreich / Deutschland 2008
Laufzeit: 105 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X
im Kino: 10/2008


José García
Foto: Piffl Medien

Die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne gewannen zwei Mal die Goldene Palme beim Filmfestival Cannes: 1999 mit „Rosetta“ und 2005 mit „"Das Kind". Die beiden Spielfilme zeichneten sich wie auch der dazwischen liegende „"Der Sohn" durch eine außergewöhnliche Verknüpfung von sehr mobiler Handkamera und langsamem Erzählrhythmus, wobei die beinahe dokumentarisch anmutende Kameraführung allen ihren Filmen eine gewisse Authentizität verleiht.

Im Jahre 2008 wurden die Dardenne-Brüder erneut nach Cannes eingeladen. Ihr Beitrag „Lornas Schweigen“ („Le silence de Lorna“) bekam auf dem Internationalen Filmfestival den Preis für „Bestes Drehbuch“.

Wie alle früheren Filme der Dardenne-Brüder erzählt auch „Lornas Schweigen“ eine Geschichte aus den Rändern der Gesellschaft: Die junge Albanerin Lorna (Arta Dobroshi) lebt in Belgien, wo sie sich ihren Traum erfüllen möchte: Zusammen mit ihrem Freund Sokol (Alban Ukaj) in Lüttich eine Snack-Bar zu eröffnen. Um Anspruch auf die belgische Staatsbürgerschaft zu erlangen, ist sie eine durch den kriminellen Mittelsmann Fabio (Fabrizio Rongione) angebahnte Scheinehe mit dem Drogenabhängigen Claudy (Jérémie Renier) eingegangen.

Der eigentliche Deal steht jedoch noch bevor: Fabio ist mit dem reichen Russen Andrej (Anton Yakovlev) in Kontakt getreten, der für eine unkomplizierte Heirat mit einer Belgierin richtig viel Geld hinblättern würde. Mit dem Gewinn aus dem „Geschäft“ könnte Lorna schon ihre Bar eröffnen – die Räumlichkeiten für das Lokal hat sie bereits besichtigt.

Dem ganzen Plan steht nur eines im Wege: Eine Scheidung von Claudy würde zu lange dauern, weil Andrej auf eine möglichst schnelle „Geschäftsabwicklung“ drängt. Andererseits würde der Tod eines Junkies durch eine Überdosis niemand überraschen. Das Problem: Ausgerechnet jetzt macht Claudy mit dem Entzug ernst, wobei er sich an Lorna klammert.

An der Filmsprache von „Lornas Schweigen“ überrascht es zunächst, dass die Kamera von Benoit Dervaux viel ruhiger als in früheren Dardenne-Filmen agiert. In der Pressekonferenz des Festivals in Cannes erläuterte Luc Dardenne diesen Schritt: „Wir haben in diesem Film eine sehr viel ruhigere Kameraführung. Ich glaube, wir wollten Lorna einfach betrachten. Als Jean-Pierre und ich das Drehbuch schrieben, sagten wir uns, dass man sich diese Frau und die drei, nein, sogar vier Männer, von denen sie umgeben ist, anschauen muss. Auch während der Proben wurde das klar. Um sie genau anschauen zu können, darf man sich nicht gleichzeitig mit ihr bewegen. Es ging nicht darum, Teil von Lornas Energie zu sein. Wir wollten in diesem Film mit der Kamera eher etwas aufzeichnen und nichts beschreiben“. An ihrem elliptischen Erzählen hält das Regie-Brüderpaar allerdings fest.

In „L’enfant“ durchlebte der junge Protagonist einen Läuterungsprozess, der dem Film eine humanistische Tiefe verlieh, wie sie im heutigen Kino selten geworden ist. Auch Lorna, deren Schweigen ihre Auftraggeber erkaufen oder erzwingen wollen, erfährt eine Katharsis.

Lorna glaubt, von Claudy schwanger zu sein. Das vermeintliche Kind, das sie gegen Fabio, Sokol und all die anderen Männer verteidigt („Ich treibe nicht ab“!, schreit sie förmlich), eröffnet ihr die Möglichkeit, Sühne zu leisten. Dazu führt Luc Dardenne aus: „Viele der Zuschauer glauben, dass Lorna schwanger sei... Weil sie wollen, dass Lorna schwanger ist. Lorna versucht sich ja an einer Art Wiedergutmachung, und der Zuschauer mit ihr. Und obwohl die Wissenschaft das Gegenteil festgestellt hat, vertrauen die Zuschauer Lorna, weil sie sich so sicher ist, schwanger zu sein.“

Die Jury der evangelischen Filmarbeit wählte „Lornas Schweigen“ zum Film des Monats. In der Begründung heißt es: „In Einstellungen von dichter Emotionalität erzählt der Film von einer Frau, die dieser Not mit allen Mitteln entfliehen will, dabei jedoch ihre menschlichen Gefühle nicht verliert. Wo alles zum Tauschgeschäft wird, da erinnert der Film an Zuneigung und Solidarität, die nirgends zu kaufen sind. Als Gleichnis über Geld und Schuld, über Verantwortung und soziale Not weist ‚Lornas Schweigen’ auf einen Horizont, der am Ende nur märchenhaft angedeutet wird: auf einen schützenden Raum, der neues Leben ermöglicht.“

Obwohl der Schluss von „Lornas Schweigen“, anders als in den früheren Filmen der Dardenne-Brüder, beinahe märchenhafte Züge annimmt, vermittelt er ebenso wie „Rosetta“, „Der Sohn“ oder „Das Kind eine zutiefst menschliche Sicht, ohne in Sentimentalität oder in Pathos abzugleiten.
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