FREMDE IN MIR, DAS | Das Fremde in mir
Filmische Qualität:   
Regie: Emily Atef
Darsteller: Susanne Wolff, Johann von Bülow, Maren Kroymann, Hans Diehl, Judith Engel, Herbert Fritsch, Klaus Pohl, Dörte Lyssewski, Brigitte Zeh, Tilla Kratochwill, Markus Lerch, Martina Troschke
Land, Jahr: Deutschland 2008
Laufzeit: 99 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: S
im Kino: 10/2008


José García
Foto: Ventura Film

Immer wieder stellt der Film unter Beweis, dass sich das Kino wie kein anderes Medium dazu eignet, Gegenwartsfragen auf eine künstlerisch spezifische Art anzugehen, die den Zuschauer zum Nachdenken anregt. Nun hat die 35-jährige, in Berlin geborene franko-iranische Regisseurin Emily Atef ein Sujet für ihren zweiten Spielfilm ausgewählt, das trotz gesellschaftlicher Relevanz in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird: Die „Postpartale Depression“, die sich insbesondere auch in ambivalenten Gefühlen der Mutter dem Kind gegenüber äußert.

Obwohl laut der Selbsthilfeorganisation „Schatten & Licht - Krise nach der Geburt e.V.“ etwa 10 bis 20 Prozent – also jährlich etwa 80 000 – aller Mütter betroffen sind, wird dieses Krankheitsbild in der Gesellschaft verschämt verschwiegen. Im Gespräch mit dem Autor nennt es Emily Atef gar ein „Tabu-Thema“, vielleicht „eins der letzten Tabus in unserer enttabuisierten Gesellschaft.“ Denn „überall liegt eine Art ‚Heiligenschein’ über den Müttern“, so Atef. „Es wird allgemein akzeptiert, dass Mutter zu sein das Schönste sei, was einer Frau geschehen könne. Wenn dies aber nicht so ist, wenn sie darunter leidet, gar Schwierigkeiten hat, das Neugeborene anzunehmen? Die Gesellschaft reagiert dann mit Befremden.“

Bereits im Jahre 2002 habe sie einen Kurzfilm über eine junge Frau drehen wollen, die an Postpartaler Depression leidet. Im Laufe der schwierigen Recherchen – „die betroffenen Frauen spüren Scham, Scham, Scham“ – habe sich herausgestellt, dass dieses Thema nicht in 15 Minuten abgehandelt werden könne. In Zusammenarbeit mit ihrer Mit-Drehbuchautorin Esther Bernstorff und unter der kundigen Beratung einer auf „Postpartale Depression“ spezialisierten Psychiaterin entstand Atefs zweiter Langspielfilm „Das Fremde in mir“, der in der Sektion „Semaine de la Critique“ beim diesjährigen Filmfestival Cannes uraufgeführt und beim Filmfestival Oldenburg mit alle drei Festival-Preisen ausgezeichnet wurde.

„Das Fremde in mir“ erzählt von der 32-jährigen Rebecca (Susanne Wolff), die zusammen mit ihrem Freund Julian (Johann von Bülow) ihr erstes Kind erwartet. Rebecca freut sich so sehr auf das Kind, dass sie ihren Blumenladen vermieten möchte, um sich ausschließlich um das Kind kümmern zu können. Obwohl die Geburt, bei der Rebecca einen gesunden Jungen zur Welt bringt, glatt verläuft, entwickelt sie keine Gefühle für das Neugeborene. Ganz im Gegenteil: Ihr Baby ist Rebecca von Anfang an völlig fremd. Die erschreckte Mutter verfällt in Aktionismus. So will sie in ihrem Blumenladen wieder arbeiten, früher als ursprünglich geplant. Da Rebecca mit ihren eigenen Empfindungen kaum umgehen kann, sieht sie sich nicht in der Lage, sich mitzuteilen, am wenigsten Julian. Auch die Beziehung zu ihm leidet darunter.

Erst Rebeccas Mutter (Maren Kroymann) erkennt, dass ihre Tochter professionelle Hilfe braucht. Nachdem ein Psychologe bei Rebecca Postpartale Depression diagnostiziert, hilft ihr Psychotherapeutin Agnes (Dörte Lyssewski), die Mutter-Kind-Beziehung von vorne aufzubauen. Ein beschwerlicher, aber auch hoffnungsvoller Weg beginnt.

Zum diffizilen Thema passt die karge Filmsprache, die Regisseurin Atef gewählt hat. Dazu führt sie im Interview aus: „Ich wählte bewusst keine Fernseh-Dramaturgie, in der so gut wie alles über die Sprache erklärt wird. Ich wollte einen Kinofilm drehen, bei dem die Bilder von alleine erzählen. Mir ist es schon bewusst, dass insbesondere die ersten dreißig, fast stummen Minuten vom Zuschauer Einiges abverlangt.“

Seine ausnehmende Glaubwürdigkeit und Intensität verdankt Atefs Film der gewaltigen Wirkung seiner Bilder, aber auch der Schauspielkunst seiner Darsteller: Die Theaterschauspielerin Susanne Wolff, die bislang kaum im Kino gearbeitet hatte, gestaltet ihre Rebecca mit einer umwerfenden Verunsicherung voller Selbstzweifel. Aber auch Johann von Bülow gelingt es, Julian als den von der Liebe zu seiner Frau und dem Nicht-Begreifen hin- und hergerissenen jungen Mann zu verkörpern. Dank der ebenfalls authentischen Darstellung von Hans Diehl und Judith Engel als Julians Vater beziehungsweise Schwester, die mit Entsetzen und Unverständnis auf Rebeccas Zustand reagieren, entsteht in keinem Augenblick der Eindruck, bei „Das Fremde in mir“ handele es sich um eine Art Versuchsanordnung.

Denn bei aller genauen Beobachtung eines Krankheitsverlaufes ist „Das Fremde in mir“ keine verfilmte Krankheitsgeschichte. Emily Atef: „Mir geht es um das Porträt einer Frau. ‚Das Fremde in mir’ ist eher ein Liebesfilm. Denn er zeigt, wie die Beziehung zwischen Rebecca und Julian unter Rebeccas Postpartaler Depression leidet.“
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