SO VIELE JAHRE LIEBE ICH DICH | Il y a longtemps que je t'aime
Filmische Qualität:   
Regie: Philippe Claudel
Darsteller: Kristin Scott Thomas, Elsa Zylberstein, Laurent Grévill, Serge Hazanavicius, Frédéric Pierrot, Lise Ségur
Land, Jahr: Frankreich 2008
Laufzeit: 115 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X -
im Kino: 11/2008
Auf DVD: 5/2009


José García
Foto: Alamode

Der bei einem Spielfilm Regie führende Schriftsteller ist eine Figur mit Seltenheitswert. Lediglich dem US-amerikanischen Romanautor Paul Auster ist es gelungen, nach seiner Co-Regisseur-Rolle in „Smoke“ (1995) und dessen Fortsetzung „Blue in the Face“ (1996) bei einem Spielfilm selbstständig Regie zu führen: Bei „Lulu on the Bridge“ (1998) verfasste Auster nicht nur das Drehbuch, sondern saß auch auf dem Regiestuhl.

Nun wechselt ein erfolgreicher französischer Schriftsteller ins Regiefach. Philippe Claudel, dessen erster Roman „Die grauen Seelen“ (2003) in Frankreich mit dem „Prix Renaudot“ ausgezeichnet, ja als die Sensation des Bücherherbstes gefeiert wurde, hat sich entschieden, einen eigenen Stoff nicht in Romanform, sondern als Film zu realisieren. Bei Claudels „So viele Jahre liebe ich dich“ („Il y a longtemps que je t’aime“) handelt es sich deshalb nicht um eine Literaturverfilmung, weil das Drehbuch keine Romanvorlage adaptiert. Dessen Drehbuch verfasste der Romancier vielmehr eigens fürs Kino. Der nun im regulären Kinoprogramm anlaufender „So viele Jahre liebe ich dich“ nahm im Februar am Wettbewerb der Berlinale 2008 teil, bei dem er mit dem „Preis der Ökumenischen Jury“ sowie mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde.

In der Ankunftshalle eines Flughafens sitzt eine einzige, altmodisch gekleidete Frau. Bald erfährt der Zuschauer, dass Juliette (Kristin Scott Thomas) nach 15 Jahren gerade aus der Haft entlassen wurde. Sie wird von ihrer deutlich jüngeren Schwester Léa (Elsa Zylberstein) abgeholt, wobei die Begegnung zwischen den beiden vorsichtig, ja geradezu verkrampft ausfällt. Nicht nur, dass Léa fast noch ein Kind gewesen sein muss, als sie ihre ältere Schwester zum letzten Mal sah. Darüber hinaus lässt ihr zögerliches Verhalten darauf schließen, dass sie für die von Juliette begangene Tat kaum Verständnis aufbringt.

Denn Juliette hatte ihr einziges Kind, einen 6-jährigen Sohn, getötet. Weil sie beim Prozess beharrlich schwieg, wurde sie zu einer besonders langen Haftstrafe verurteilt. Für ihre Eltern hörte sie auf zu existieren, so dass Léa im Grunde als Einzelkind aufwuchs. Allerdings vergaß sie ihre ältere Schwester nicht. Nun bietet sie Juliette einen Platz in ihrem Haus an, wo Léa mit Ehemann Luc (Serge Hazanavicius) und zwei vietnamesischen Adoptivtöchterchen lebt. Zum Haushalt gehört auch der kauzige Schwiegervater, der seit einem Schlaganfall drei Jahre zuvor nicht mehr sprechen kann, und jetzt den ganzen Tag in seiner Bibliothek verbringt.

Versucht Léa, ihrer Schwester die Eingewöhnung in ihr neues Leben zu erleichtern, und insbesondere Vertrautheit zu ihr zu entwickeln, so tut sich Léas Mann Luc damit ungleich schwerer. In einer Szene bringt dies Regisseur Claudel deutlich zum Ausdruck: Das Ehepaar ist abends ausgegangen. Als Luc erfährt, dass Juliette auf die beiden Töchter aufpasst, kehrt er sofort um.

„So viele Jahre liebe ich dich“ beschreibt die ersten Schritte Juliettes in ein neues Leben vor allem über alltägliche Situationen. Dafür hat Philippe Claudel Juliette einen Reigen großartiger Nebenfiguren an die Seite gestellt: Neben dem stumm gewordenen Schwiegervater Léas und einem irakischen Arzt, der im Krieg seine gesamte Familie verloren hat, gehören dazu der Polizei-Capitaine Fauré (Frédéric Pierrot), ein Melancholiker, der von einer Reise zu den Orinoco-Quellen träumt, und insbesondere auch Léas Kollege Michel (Laurent Grévill), der von einer Familientragödie heimgesucht wurde.

Es sind samt und sonders Menschen, die einige Verwundungen erfahren haben, die selbst Gefangene ihrer Lebensumstände geworden sind. Im Umgang mit ihnen gelingt es Juliette nach und nach, aus ihrem inneren Gefangensein herauszutreten.

Es liegt vor allem am minimalistischen, zurückgenommenen Spiel der britischen Schauspielerin Kristin Scott Thomas, dass der Zuschauer den inneren Wandel Juliettes nachempfinden kann. Der verhärtete Gesichtsausdruck hellt sich allmählich auf. Es sind kleine Gesten, etwa ein kurzes Lächeln, mit denen Kristin Scott Thomas diese Empfindungen nach außen kehrt.

Obwohl hin und wieder – etwa wenn der Anblick glücklicher Kinder Juliette ihre Tat in Erinnerung ruft – die Bildersprache ins Symbolhafte umkippt, erzählt Philippe Claudel vorwiegend über die Gesichter ihrer Protagonisten. Die anfangs eher abwesende Juliette findet schließlich einen neuen Platz im Leben. Am Ende antwortet sie auf Léas Frage „Juliette, bist du da?“ mit einem „Ja“. Der Antwort fügt sie den vielsagenden, zu sich selbst gesprochenen Satz hinzu: „Ja, ich bin da“.
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