HELEN | Helen
Filmische Qualität:   
Regie: Sandra Nettelbeck
Darsteller: Ashley Judd, Goran Visnjic, Lauren Lee Smith, Alexia Fast, Alberta Watson, David Hewlett, Leah Cairns
Land, Jahr: USA / Großbritannien / Deutschland 2008
Laufzeit: 119 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X -
im Kino: 11/2009
Auf DVD: 5/2010


José García
Foto: Warner Bros.

Eine Geburtstagsfeier in einem stilvoll und nicht gerade billig eingerichteten Haus. Viele Freunde, allesamt etwa Anfang vierzig, sind gekommen, um Helen (Ashley Judd) zu gratulieren. Höhepunkt des Abends: Die Enthüllung des Konzertflügels, den ihr Ehemann David (Goran Visnjic) als Liebeserklärung an die Musikprofessorin Helen geschenkt hat. Zusammen mit ihr freut sich auch Helens 13-jährige Tochter Julie (Alexia Fast), die sie vor sieben Jahren mit in die Ehe brachte.

In dieser kurzen Sequenz führt Drehbuchautorin und Regisseurin Sandra Nettelbeck ein scheinbar perfektes Leben vor. In diese Idylle mischen sich aber sofort Misstöne ein, denn auf einmal steht Helen abseits, als habe die Feier gar nichts mit ihr zu tun. Einige Tage später wiederholt sich die Szene: Bei einem Abendessen mit Freunden ist Helen in sich verschlossen, fühlt sich auf unerklärliche Weise unwohl. Sie verlässt das Lokal, ohne sich zu verabschieden.

Helen leidet an Schlaflosigkeit. An anderen Tagen schläft sie bis in den Nachmittag hinein. Bald verliert sie jegliches Zeitgefühl, verlässt kaum noch das Bett. Untrügliche Begleitsymptome einer Depression, die insbesondere ihr Mann David nicht wahrhaben will, führt sie doch ein so glückliches Leben. Bis der Arzt ihm eröffnet: „Ihre Frau ist nicht unglücklich, Ihre Frau ist krank!“.

David sieht machtlos zu, wie er den Zugang zu seiner Frau nach und nach verliert. Der erfolgreiche Anwalt scheint unfähig zu sein, zu verstehen, was in Helen vorgeht. Um so eifersüchtiger reagiert David, als Helen zur jungen Studentin Mathilda (Lauren Lee Smith) eine emotionale Bindung aufbaut, weil auch sie an (bipolarer) Depression leidet. Die Krankheit ist das unsichtbare Band, das die zwei Frauen eint, während sich Helen von ihrer Familie immer mehr entfernt.

Sandra Nettelbeck nähert sich ihrem schwierigen Thema mit einer nüchternen Inszenierung an, die den Film in keinem Augenblick ins Rührselige abdriften lässt. Die Kamera von Michael Bertl bevorzugt zwar entsättigte Farben in kühlen Tönen. Sie werden indes genauso wenig manipulativ eingesetzt wie die zurückgenommene Musik.

In „Helen“, der am offiziellen Wettbewerb des renommierten „Sundance“- Filmfestivals teilnahm und nun im deutschen Kino anläuft, umschifft Nettelbeck darüber hinaus jegliche Klischees etwa in der Darstellung der psychiatrischen Abteilung durch das einfache, aber wirksame Mittel, dass sie außer Helen und Mathilda keine weiteren Kranken zeigt. Die schnörkellose Erzählung verliert sich ebenso wenig in Nebenhandlungen, etwa der Ärzte, die das Hollywood-Kino so sehr mag.

Ähnlich Sarah Polleys Spielfilmdebüt „An ihrer Seite“ (siehe Filmarchiv), in dem sich eine an Alzheimer erkrankte Frau ihrem Ehemann entfremdet, und bei einem Pflegeheim-Mitinsassen Zuwendung findet, handelt „Helen“ nicht nur von einer Krankheitsgeschichte. Nettelbecks vielschichtiger, einfühlsamer Film ist eigentlich ein Liebesfilm (siehe auch Interview mit Regisseurin Sandra Nettelbeck), der sowohl von der Liebe in schwierigen Zeiten als auch von tragischen Dilemmata erzählt.

Sandra Nettelbeck vermeidet es, einfache Lösungen zu geben. Über seinen künstlerischen Eigenwert hinaus kann aber ihr Film insbesondere für Angehörige eine Hilfe bieten, sich in die Situation der Menschen hineinzufühlen, die an Depressionen leiden. Ungeachtet der Aktualität, die sie durch den Tod von Robert Enke erlangt hat, ist die allzu häufig tabuisierte Depression eine Volkskrankheit geworden. Laut der „Stiftung Deutsche Depressionshilfe“ erkrankt jeder fünfte Bundesbürger ein Mal im Leben an einer Depression. Die Stiftung schätzt, dass in Deutschland derzeit etwa vier Millionen Menschen an einer behandlungsbedürftigen Depression leiden.

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Interview mit Sandra Nettelbeck


José García: Ihren Film haben sie einer verstorbenen Freundin gewidmet. Stand sie am Anfang des Drehbuchs?
Sandra Nettelbeck: Nein. Am Anfang des Drehbuchs stand ein Artikel vom „New Yorker“ 1998, in dem Andrew Solomon sehr eindrücklich von seiner eigenen Depression berichtet, das hat mich dazu motiviert, die Geschichte von „Helen“ zu entwickeln. Obwohl meine persönliche Erfahrung natürlich eine Rolle spielt, handelt es sich bei diesem Film um eine fiktionale Geschichte.

J.G.: Der Arzt im Film spricht einen sich sehr authentisch anhörenden Satz, als er zu David sagt: „Ihre Frau ist nicht unglücklich, sie ist krank“.
S.N.: Das ist der Kern des Konflikts. Solomon erläutert in seinem Artikel, dass ihn die Depression in einem Augenblick heimsuchte, als es ihm gut ging: „Ich hatte beruflich und persönlich sehr viel in meinem Leben erreicht.“ So sollte es auch für Helen sein. Ich wollte erzählen, dass es jeden treffen kann, dass es weder mit Herkunft, noch damit zu tun hat, ob man arm oder reich, glücklich oder unglücklich ist.

J.G.: Dieser Satz bringt die Situation gerade für die Angehörigen auf den Punkt.
S. N.: Es ist für Außenstehende oft nicht erkennbar, wo Traurigkeit aufhört und Krankheit anfängt. Selbst für die Betroffenen ist dies schwer. Depressive äußern oft die Sehnsucht nach einer „richtigen“ Krankheit. Gebrochene Beine versteht jeder.

J.G.: Allerdings kommt im Film die psychologische Begleitung gar nicht vor.
S. N.: In einer ersten Drehbuchfassung gab es einen Therapeuten. Er ist dann nicht nur den in einem Filmprojekt üblichen Kürzungen zum Opfer gefallen. Dies geschah auch aus der Überlegung heraus, dass sich einige Menschen – und Helen gehört dazu –einer Therapie entziehen. Und sie ist über weite Strecken so labil, dass sie ohnehin nicht therapiefähig gewesen wäre.

J.G.: Sie haben den Film in Kanada gedreht. Könnte eine solch universale Geschichte nicht in Deutschland angesiedelt sein?
S. N.: Doch, den Film kann man sicher auch in Deutschland drehen. Als ich aber vor elf Jahren anfing, für den Film zu recherchieren, fand ich nur in Amerika die Literatur, die ich suchte. Persönliche Erfahrungsberichte und wissenschaftliche Studien waren in Deutschland nicht in dem Maße zugänglich. Seitdem hat sich Einiges verändert, unter anderem ist auch Andrew Solomons Buch übersetzt worden, und vieles mehr. Aber 1998 entstand eine sehr amerikanische Geschichte. Und ich wollte den Film international besetzen, um ihm eine internationale Chance zu geben.

J.G.: Können Sie das spezielle Amerikanische an der Geschichte näher erläutern?
S. N.: Die soziale Atmosphäre wäre eine andere gewesen, hätte ich den Film in Deutschland gedreht. Das wird besonders deutlich an David, der wie die typischen amerikanischen Erfolgsmenschen davon überzeugt ist, dass er es schafft, dass er seine Frau heilen kann. Ich glaube, in Deutschland wäre man ambivalenter damit umgegangen. Insofern hatte die Geschichte für mich von Anfang an eine sehr amerikanische Sensibilität.

J.G.: Eigentlich ist „Helen“ eine „Dreiecksgeschichte“, weil sich David aus der Beziehung zwischen Helen und Mathilda ausgeschlossen fühlt.
S. N.: Helen verliert den Kontakt zu ihrem Mann. David ist eifersüchtig auf Mathilda, er will derjenige sein, den seine Frau um sich haben will, der sie retten kann. Er weiß von Anfang an, dass die beiden Frauen etwas verbindet, was für ihn unerreichbar bleibt. Mathilda wiederum möchte Helen retten, weiß aber, dass sie Helen verlieren wird, wenn sie es schafft.

J.G.: Dies könnte sogar als das Herzstück Ihres Filmes bezeichnet werden.
S. N.: Es ist ein unlösbarer, tragischer Konflikt. Mathilda begleitet zwar Helen ein Stück ihres Weges, ist am Ende aber wieder allein. Deshalb fühlt sie sich so erleichtert. Nicht nur weil es Helen besser geht, sondern weil sie sich nur so von ihr verabschieden kann.

Sandra Nettelbeck gelang gleich mit ihrem ersten Langspielfilm „Bella Martha“ (2001) der internationale Durchbruch. „Helen“ ist nach dem Kinderfilm „Sergeant Pepper“ (2004) Nettelbecks dritter Spielfilm und zugleich ihre erste englischsprachige Produktion.
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