BERLINALE 2010 | Generation Kplus & 14plus
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Land, Jahr: 0
Laufzeit: 0 Minuten
Genre:
Publikum:
Einschränkungen:
im Kino: 2/2010


José García
Foto: Berlinale

Die Berlinale besteht aus sieben eigenständigen Sektionen. Dem Kinder- beziehungsweise Jugendfilm widmet sich die „Generation“ genannte Sektion, die sich seit 2004 wiederum in zwei unabhängige Wettbewerbe gliedert: „Kplus“ wendet sich an Kinder bis 14 Jahren, „14plus“ an 14- bis 18-Jährige. Im Jahre 2010 bestehen die „Kplus“- und „14plus“-Wetbewerbe aus jeweils 14 Langfilmen. Hinzu kommen Kurzfilme in unterschiedlicher Länge.

Kplus: Authentizität und Familienwerte

Bereits der Eröffnungsfilm des „Kplus“-Wettbewerbs macht einen Trend im diesjährigen Berlinale-Kinderfilm deutlich (siehe dazu auch das Interview mit Sektionsleiterin Maryanne Redpath): Die mexikanische Produktion „Alamar“ ist eine sogenannte „Dokufiktion“, in der sich die Protagonisten nach einem fertigen Drehbuch selbst spielen. „Alamar“ („Aufs Meer hinaus“) stellt den Besuch des 8-jährigen, bei seiner italienischen Mutter in Rom lebenden Natan bei seinem Vater Jorge in den Mittelpunkt. Vater und Sohn fahren nach Banco Chinchorro, wo Jorges Vater Néstor von der Fischerei lebt. Drehbuchautor und Regisseur Pedro González-Rubio führt selbst die Kamera, die Großvater, Vater und Sohn stets sehr nahe ist, und trotzdem wunderbare Landschaftsbilder bietet.

An der Schnittstelle zwischen Dokumentation und Fiktion befindet sich ebenfalls der italienische Film „La Pivellina“, der von einer verlassenen 2-Jährigen erzählt. Patty, eine ältere Dame, die beim Zirkus arbeitet, findet die kleine Asia auf einem Spielplatz, und stellt sich die Frage, ob sie die Mutter suchen oder das Mädchen bei sich aufnehmen sollte. Insbesondere der 13-jährige Tairo kümmert sich liebevoll um die Kleine. Mit Handkamera gedreht, entfaltet der Film eine dokumentarische Wirkung im Stil der belgischen Regisseur-Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Obwohl die Geschichte von „La Pivellina“ reine Fiktion ist, verbreitet der ganze Film eine besondere poetische Wahrhaftigkeit, nicht nur wegen der sich selbst spielenden Laiendarsteller, sondern auch wegen des allen Klischees trotzenden verregneten römischen Winters.

Als lupenreine Dokumentation nimmt sich demgegenüber der neuseeländische Film „This Way of Life“ („Wie wir leben“, siehe Bild) aus, in dem Tom Burstyn und Barbara Sumner Burstyn vier Jahre lang eine Maori-Familie filmisch begleiten: Peter und Colleen Karena leben mit ihren sechs Kindern in ganz einfachen Verhältnissen, aber im Einklang mit der Natur. Ähnlich „Alamar“ übernimmt die Kamera die Augenhöhe eines Achtjährigen, des ältesten Karena-Sohnes. Darüber hinaus setzt „This Way of Life“ klassische Mittel einer Dokumentation, etwa Interviews ein. Das Glück – und damit stimmt „Wie wir leben“ mit „Alamar“ ebenfalls überein – liegt in den einfachen Dingen des Alltags, in der zärtlich-liebevollen Beziehung zwischen den Eltern und den Kindern.

Die wohl berührendsten Filme im diesjährigen „Kplus“-Wettbewerb erzählen zwar fiktionale, aber autobiografisch gefärbte Geschichten: „Ein neues Leben“ („Yeo-haeng-ja“) handelt von der 9-jährigen Jinhee, die im Seoul des Jahres 1975 von ihrem Vater einem von katholischen Nonnen geführten Waisenhaus übergeben wird. Dank der großartigen Kim Saeron, die ihre Rolle feinnuanciert mit Leben fühlt, gelingt es Regisseurin Ounie Lecomte, die unterschiedlichen Empfindungen, von der Auflehnung bis zur Ergebenheit in ihr Schicksal, die Freundschaften, Freud und Leid in diesem Mikrokosmos auszudrücken. Der punktgenaue Rhythmus und die ausgeklügelte Balance zwischen der Haupt- und den Nebenfiguren machen aus „Ein neues Leben“ ein kleines Kinojuwel. Obwohl Ounie Lecomte 1975/76 im Waisenhaus Saint Paul in Seoul ähnliche Erfahrungen wie Jinhee machte, möchte sie ihren Film nicht ausschließlich autobiografisch verstanden wissen.

„Echo des Regenbogens“ („Shui Yuet Sun Tau“) ist im Hongkong des Jahres 1969 angesiedelt, als der Drehbuchautor und Regisseur Alex Law neun Jahre alt war. Sein Vater arbeitet als Schuhmacher, die Mutter hilft im Geschäft aus. Alex ist vor allem stolz auf seinen älteren Bruder, der nicht nur beste Noten mit nach Hause bringt, sondern auch eine große Leichtathletikhoffnung darstellt. Mit viel Humor schaut Alex auf seine Kindheit zurück, die aber von einer besonders schmerzlichen Erfahrung gekennzeichnet ist. Ein Melodram, eine Liebeserklärung an Hongkong, aber insbesondere an die Familie.


14plus: Unterwegs zum eigenen Platz im Leben

Wie etliche andere Filme des diesjährigen „14plus“-Wettbewerbs thematisiert der Eröffnungsfilm „Road, Movie“ von Dev Benegal das Unterwegssein, ein ohnehin für junge Menschen charakteristisches Filmgenre. „Road, Movie“ handelt von Vishnu, dem jungen Mann, der von der großen, weiten Welt träumt. Die Gelegenheit aufzubrechen ergibt sich, als er einen alten, klapprigen Lastwagen, der in seinen besseren Tagen als fahrbares Kino diente, durch die Wüste an die Küste zu einem Automuseum bringen soll. Die Reise verändert Vishnus Leben.

Eine ganz andere Reise unternimmt im kolumbianischen Spielfilm „Retratos en un mar de mentiras“ („Portraits In A Sea Of Lies“) die etwa 16-jährige Marina: Nach dem Tod ihres Großvaters macht sie sich zusammen mit ihrem Cousin Jairo zu einer Reise in ihre Vergangenheit auf, um den Grundbesitz ihrer Familie zurückzufordern. Während der Reise werden Marina und Jairo immer stärker in die Geschichten ihrer traumatischen Vergangenheit hineingesogen. Drehbuchautor und Regisseur Carlos Gaviria gelingt es, ein eindringliches Bild Kolumbiens und des seit 60 Jahren währenden Bürgerkrieg zu vermitteln, in dem mehrere hunderttausend Menschen starben und mehr als vier Millionen ihre Heimat verloren.

Mit einer Reise beginnt der wohl witzigste Beitrag im „14plus-Wettbewerb“ 2010 – sofern man diesen eher anarchischen Humor mag: In Jared Hess’ „Gentlemen Broncos“ fährt Benjamin, ein 17-jähriger Science-Fiction-Fan, der zu Hause unterrichtet wird, zu einem Autoren-Workshop. Denn dort soll sein Idol, die Science-Fiction-Legende Dr. Ronald Chevalier, ein Seminar halten. Im Gepäck hat Benjamin ein selbstverfasstes Science-Fiction-Manuskript. Der Bestseller-Autor ist von Benjamins Text so beeindruckt, dass er ihn leicht umgeschrieben als seinen eigenen Roman ausgibt. Ein Amateurfilmer in Benjamins Alter ist ebenso angetan: Er will den Text verfilmen, auch wenn er eigentlich überhaupt keine Geldmittel dazu hat. „Gentlemen Broncos“ bietet in Parallelhandlungen diese drei Versionen der Geschichte – und darüber hinaus auch den Hauptstrang mit der „wirklichen“ Welt. Selbst wenn der Film ausgiebig aus der Filmgeschichte „zitiert“, ergibt die Inszenierung von Jared Hess (nach einem zusammen mit seinem Bruder Jerusha Hess verfassten Drehbuch) etwas Neues.

Sehr ambitioniert ist auch der Beitrag der niederländischen Regisseurin Mijke de Jong, die am „14plus“-Wettbewerb in den letzten Jahren mehrfach teilgenommen hat: „Joy“ handelt von einer jungen Frau, die vom Gedanken, ihre nie gekannte leibliche Mutter zu finden, geradezu besessen ist. Mit viel Wackel-Handkamera in grobkörnigen Bildern und verwaschenen Farben inszeniert, stellt der Film allerdings eine visuelle Herausforderung für den Zuschauer dar.

Im Unterschied zu früheren Jahren thematisieren die Kinder- und Jugendfilme der diesjährigen Berlinale indes die neuen virtuellen Welten etwa des Internets und der Videospiele kaum – lediglich bei je einem Film bei „Kplus“ („Willkommen zur Space Show“) und bei „14plus“ („Summer Wars“) spielen sie eine zentrale Rolle. Kinder und Jugendliche scheinen sich im Film lieber mit der realen Welt auseinander setzen zu wollen.


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Interview mit Maryanne Redpath, seit 2008 Leiterin der Berlinale-Sektion Generation. Das Interview führte José García.

An den Wettbewerben Generation Kplus und Generation 14plus nehmen jeweils 14 Langfilme sowie 16 bzw. 12 Kurzfilme teil. Gibt es einen roten Faden, der sich durch diese Filme zieht?

Redpath: Wir suchen die Filme nicht nach Themen aus. Unser einziges Auswahlkriterium ist die Qualität. Im Nachhinein fallen mir aber bei einigen Filmen Gemeinsamkeiten auf: Auffällig ist, dass die Schauplätze und Landschaften wichtige Rollen spielen. Die Menschen, die dort seit tausenden von Jahren beheimatet sind, die Ureinwohner, haben eine ganz besondere Beziehung zu ihrer Umgebung. Es handelt sich dabei oft um bedrohte Naturräume und kaputte Ökosysteme, die den Einklang von Mensch und Natur stören.

Können Sie einige Beispiele nennen?
Redpath: In der mexikanischen Dokufiktion „Alamar“ erlebt ein Junge das Leben seines Vaters und Großvaters am zweitgrößten Korallenriff der Erde, wo sich schon die Fanggründe der Maya befanden. Im finnischen Spielfilm „Die Letzte ihrer Familie“ sieht das Mädchen Neko die Lebensgrundlage ihres Volkes, die Nenzen, in der Tundra verschwinden und damit ihre uralten Traditionen.

In anderen Filmen steht die Landschaft insofern auch im Mittelpunkt, als dass viel gereist wird.
Redpath: Dieses Jahr haben wir im Programm viele Filme, die das Unterwegs Sein in den Mittelpunkt stellen. Der Eröffnungsfilm von Generation 14plus kommt aus Indien und heißt nicht umsonst „Road, Movie“. Aber reisen kann auch metaphorisch verstanden werden: Jugendliche brechen auf, suchen ihren Platz im Leben. Das Programm zeigt viele „Navigationsmöglichkeiten“, etwa wie man eine Eiswüste durchquert oder mit einem Raumschiff durchs All fliegt. Oder die Protagonisten reisen durch seelische Landschaften mithilfe ihrer Fantasie – oder tatsächlich mit Flügeln.

Zu den klassischen Generation-Themen gehören Familie und Freundschaft. Gibt es dieses Jahr auch Filme darüber?

Redpath: Ja. Und viele der Väter und Mütter, die in den diesjährigen Filmen vorkommen, sind wirkliche Helden, etwa die Maori-Eltern Colleen und Peter in der Dokumentation „Wie wir leben“, die sich um ihre sechs Kinder liebevoll kümmern. Es gibt aber auch Superhelden:
Kinder, die ihren Freunden aus schwierigen Situationen heraushelfen oder sich verantwortungsvoll um ihre Geschwister kümmern, wie Anton im dänischen Generation Kplus-Beitrag „Superbruder“, der zu seinem älteren, autistischen Bruder Buller hält. Sie sind Wegbegleiter, eine Art Schutzengel.

Die Jugendlichen werden heute mit neuen Medien konfrontiert, die ihre Sehgewohnheiten prägen. Spiegelt sich das im Generation 14plus-Programm wider oder wählen Sie eher klassisch erzählte Filme aus?
Redpath: Wir haben keinen pädagogischen Auftrag. Wie stellen einfach fest, dass nicht alle Jugendlichen gleich sind: Für einige kann der Rhythmus eines Filmes nicht langsam genug sein, für andere nicht schnell genug – man darf die Jugendlichen nicht in eine Schublade stecken.
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