ZARTE PARASITEN | Zarte Parasiten
Filmische Qualität:   
Regie: Christian Becker, Oliver Schwabe
Darsteller: Robert Stadlober, Sylvester Groth, Maja Schöne, Corinna Kirchhoff, Gerda Böken, Max Timm, Rainer Laupichler, Paul Nickel, Tom Schilling
Land, Jahr: Deutschland 2009
Laufzeit: 90 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X
im Kino: 9/2010
Auf DVD: 3/2011


José García
Foto: Filmlichter

Zwei junge Erwachsene entscheiden, ohne festen Wohnsitz und ohne geregelte Arbeit im heutigen Deutschland zu leben. Bereits die erste Szene verdeutlicht, wie sie ihre absolute Unabhängigkeit meinen: In der Disco haben Manu (Maja Schöne) und Jakob (Robert Stadlober) die Bekanntschaft eines jungen Mannes gemacht. Als sich der Junge den beiden anschließen will, wird er von Jakob unsanft gestoppt. Das Paar genügt sich selbst – keine Freunde, keine weiteren menschlichen Bindungen. Sie haben sich in einem Provisorium, in einem selbstgebauten Lager im Wald eingerichtet. Wie zerbrechlich eine solche Behausung ist, werden sie früh genug erfahren.

Arbeiten im herkömmlichen Sinne kommt für Manu und Jakob nicht in Frage. Aber sie haben eine Marktlücke entdeckt: In der zunehmend kälter werdenden Gesellschaft fehlen vielen Menschen praktische Hilfen, vor allem aber Zuneigung und Wärme. So sind Manu und Jakob „menschliche Dienstleister“ geworden. Während Manu die sterbenskranke Frau Katz pflegt, sucht sich Jakob einen „Kunden“ auf eine etwas riskante Art: Er lässt sich vom Segelflugzeug eines Managers leicht verletzen. Daraus entwickelt sich eine Abmachung: Der Pilot, Martin (Sylvester Groth), bietet Jakob den Platz seines kürzlich verstorbenen Sohnes an. Obwohl Martins Frau (Corinna Kirchhoff) Bedenken äußert, zieht Jakob bei ihnen ein. Als die alte Frau Katz überraschend stirbt, möchte Manu weiterziehen, aber Jakob fühlt sich inzwischen sehr wohl sich in seiner neuen „Familie“, was das gemeinsame Lebensmodell mit Manu in Frage stellt. Die junge Frau kämpft mit aller Kraft um ihre Liebe, um die gemeinsame Zukunft.

Die Regisseure Oliver Schwabe und Christian Becker beteuern, dass sie für die Entwicklung ihres selbst verfassten Drehbuchs von wahren Tatsachen ausgegangen seien: Das im Internet gefundene Zitat „Die Überlebensstrategien eines aus dem System gefallenen Pärchens“ sei der Auslöser gewesen. Bald darauf seien sie auf einen Zeitungsartikel gestoßen, der von einem weiteren Paar berichtete, die ein halbes Jahr im Wald campiert. Sie wollten ausprobieren, „wie es ist, anders zu leben.“ Dass eine Story aus dem Leben gegriffen ist, garantiert allerdings noch keine Wahrhaftigkeit. Eine wahre Geschichte in ein Kinodrehbuch umzusetzen, birgt vielmehr zweierlei Gefahren: Die meisten Autoren verwechseln Glaubwürdigkeit mit der Abbildung von kleinsten Details, die jedoch häufig kein Ganzes ergeben. Christian Becker und Oliver Schwabe sind der gegensätzlichen Gefahr erlegen: Ihre Story wird zur reinen Abstraktion, zur These.

„Zarte Parasiten“ wird zur bloßen Versuchsanordnung, weil die Figuren auf dem Papier entworfene Charaktere sind. Der Zuschauer erfährt gar nichts von der Lebensgeschichte der zwei Aussteiger, auch nicht wie lange sie bereits so leben. Da die Filmemacher keine Erklärung liefern, warum sie diese Entscheidung getroffen haben, findet man als Zuschauer keinen Zugang zu den Protagonisten. Manu und Jakob stehen lediglich für die These, sie führten ein Leben im Wald als Abkehr von der Zivilisation. Dass das Kino jugendliche Aussteiger so darstellen kann, dass der Zuschauer Empathie für sie empfindet, beweisen unter anderen Leos Carax’ „Die Liebenden von Pont-Neuf“ (1991) und Jean-Pierre und Luc Dardennes „Rosetta“ (1999). Darüber hinaus stellen sowohl Carax als auch die Dardenne-Brüder unter Beweis, dass unkonventionelles Inszenieren sehr wohl mit einer sorgfältigen Dramaturgie vereinbar ist – im Gegensatz zur uninspirierten, zerfahrenen Erzählweise von „Zarte Parasiten“.

Die zentrale Frage ist durchaus bedenkenswert: Darf emotionale Zuwendung zu einer Dienstleistung werden? Der Film stellt diese durchaus in die Nähe „käuflicher Liebe“, etwa wenn zu den Diensten, die Manu bei Frau Katz verrichtet, auch der Vollzug des Geschlechtsverkehrs mit Jakob gehört, auf den die alte Dame einen voyeuristischen Blick werfen darf. Ebenso käuflich erweist sich freilich die Liebe, die Jakob Martin und seiner Frau als Ersatzsohn erweist. Bei einer dichteren Inszenierung hätte das Regisseurduo aus der Zuspitzung der Situation, als sich Jakob bei seiner Ersatzfamilie zunehmend wohler fühlt und dadurch zwischen der Abmachung mit Manu und einem Verbleib in der neu erfahrenen Geborgenheit schwankt, einen regelrechten dramaturgischen Konflikt ziehen können. Dieser bleibt aber genau so verschwommen wie die moralische Bewertung des Handelns von Manu und Jakob. Oliver Schwabe und Christian Becker enthalten sich jedes ethischen Urteils, so dass es offen bleibt, ob das junge Paar eher aus uneigennützigen oder aber aus egoistischen Beweggründen handelt.
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