LIVE AUS PEEPLI – IRGENDWO IN INDIEN | Peepli Live
Filmische Qualität:   
Regie: Anusha Rizvi
Darsteller: Omkar Das Manikpuri, Raghubir Yadav, Malaika Shenoy, Nawazuddin Siddiqui, Shalini Vatsa, Farukh Jaffer, Vishal Sharma
Land, Jahr: Indien 2009
Laufzeit: 105 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 11/2010
Auf DVD: 8/2011


José García
Foto: rem

Obwohl das indische Kino noch immer mit den bunten, von Tanzeinlagen durchsetzten, durch und durch kommerziellen „Bollywood“-Filmen gleichgesetzt wird, haben Spielfilme wie „Slumdog Millionär“ (siehe Filmarchiv) oder „My Name is Khan“ (siehe Filmarchiv) dazu beigetragen, dass das indische Kino im Westen etwas differenzierter wahrgenommen wird. Nur: Obwohl „Slumdog Millionär“ in Indien angesiedelt war, handelte es sich dabei um eine britisch-amerikanische Produktion mit einem englischen Regisseur (Danny Boyle). Bei „My Name is Khan“ war es genau umgekehrt: Der Inder Karan Johar führte bei einer Story Regie, die sich in den Vereinigten Staaten abspielte. Mit „Live aus Peepli – Irgendwo in Indien“ kommt nun eine indische Produktion in die Kinos, die unter der Regie der Inderin Anusha Rizvi fern aller „Bollywood“-Klischees in Indien spielt.

Irgendwo in Indien liegt das kleine Dorf Peepli, wo Landwirtschaft noch mit harter Handarbeit verbunden und die Bauern auf den kargen Ertrag der Erde angewiesen sind. Dort leben die Brüder Natha (Omkar Das Manikpuri) und Budhia (Raghubir Yadav). Die schlechten Ernten erlauben es ihnen nicht, ihre hohen Schulden zurückzuzahlen, so dass die Bank ihr kleines Stück Land verpfändet und es zwangsversteigern will. Vom lokalen Großgrundbesitzer erhalten Natha und Budhia keine konkrete Hilfe, wohl aber einen folgenschweren Rat: Ein Regierungsprogramm unterstützt die Hinterbliebenen, wenn ein Bauer Selbstmord begeht. Dass sich Budhia selbst umbringt, wäre keine Lösung. Schließlich ist er Junggeselle. So überredet er Natha: Nach seinem Selbstmord würden seine Frau, seine ewig zeternde Mutter und die drei Kinder eine saftige Entschädigung von 100 000 Rupien erhalten.

Nathas Entscheidung zieht große Kreise, nachdem der junge Reporter Rakesh (Nawazuddin Siddiqui) davon erfährt und für die Lokalzeitung über die „Chronik eines angekündigten Todes“ berichtet. Die wiederum fällt der Star-Fernsehreporterin Nandita Mallik (Malaika Shenoy) in die Hände, die Nathas Geschichte in einen Zusammenhang mit den bevorstehenden Regionalwahlen in Mukhya Pradesh bringt, bei denen die Rivalität zwischen dem Landwirtschaftsminister und dem Ministerpräsidenten des indischen Bundesstaats im Mittelpunkt steht. Dadurch wird Nathas angekündigter Selbstmord zum Politikum. Malliks Konkurrenzsender schickt seinen Starjournalisten, den ehrgeizigen und skrupellosen Reporter Kumar Deepak (Vishal O Sharma), ins Dorf Peepli. Bald folgen andere Medien, die den verschlafenen Ort mit deren Ü-Wagen belagern. Während die gesamte Nation das Geschehen am Bildschirm verfolgt, lassen die Medienleute den armen Bauern keinen Augenblick mehr aus den Augen. Weil die Situation stagniert, entwickelt sich selbst ein Gang Nathas, um ein menschliches Bedürfnis zu verrichten, zur Sensation, die mit den Kameras festzuhalten gilt. Und wenn es gar nichts mehr zu berichten gibt, dann können sich die Journalisten immer noch gegenseitig interviewen. Was ein Bauernselbstmord unter Tausenden hätte sein können, entwickelt sich zu einem Medienknüller, von dem Medien und Politiker gleichermaßen profitieren möchten.

Anusha Rizvis leicht überzeichnete Satire beruht auf einer traurigen Wirklichkeit: Zwischen 1997 und 2007 begangen 182 000 überschuldete Bauern in Indien Selbstmord. Die schreckliche Realität hinter „Live aus Peepli – Irgendwo in Indien“ erahnt der Zuschauer etwa auch in einer kleinen Randhandlung: Immer wieder fällt der Blick der Kamera auf einen extrem dürren Mann, der die Erde mit bloßen Händen bearbeitet. Irgendwann einmal ist die Stelle, in der er arbeitete, leer. Der Hungertod ist auch keine Seltenheit auf dem Land.

In ihrem Spielfilmdebüt besetzte Regisseurin Anusha Rizvi die Hauptrollen vorwiegend mit Schauspielern aus ländlichen Theatergruppen, die dem Film Glaubwürdigkeit verleihen. Zur Authentizität tragen ebenso die Dreharbeiten in einem kleinen indischen Dorf bei. „Live aus Peepli – Irgendwo in Indien“ lebt von den Gegensätzen, etwa von den Widersprüchen, etwa zwischen Armut und unmenschlichen Arbeitsbedingungen auf dem Land und einer expandierenden Wirtschaft in den Megacities mit hochmodernen Massenmedien. Diese Gegensätze setzen sich in der Inszenierung fort, in der sich ein schwarzer Humor und bunte Farben mit dem ersten Sujet die Waage halten. Anusha Rizvi hält diese Widersprüche wunderbar im Gleichgewicht, weil sie ein schlafwandlerisch sicheres, für ein Spielfilmdebüt außergewöhnliches Gespür für Erzählrhythmus beweist.

Mit der Kritik an der Mediengesellschaft und an korrupten Politikern verknüpft Rizvis Tragikomödie eine fürs heutige Indien eigentümliche Handlung mit allgemein gültigen Elementen.
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