ANOTHER YEAR | Another Year
Filmische Qualität:   
Regie: Mike Leigh
Darsteller: Jim Broadbent, Ruth Sheen, Lesley Manville, Oliver Maltman, David Bradley, Karina Fernandez, Martin Savage, Peter Wight, Imelda Staunton, Phil Davis
Land, Jahr: Großbritannien 2010
Laufzeit: 129 Minuten
Genre: Zwischenmenschliche Beziehungen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 1/2011
Auf DVD: 6/2011


José García
Foto: Prokino

In seinem letzten Spielfilm „Happy-Go-Lucky bot der britische Regisseur Mike Leigh Momentaufnahmen aus dem Leben seiner Protagonistin, die sich kaum zu einer einheitlichen Handlung zusammenfügten, weil im Vordergrund die Charakterzeichnung der von Sally Hawkins verkörperten Hauptfigur „Poppy“ auf der Suche nach dem Glück stand. Sein aktueller Film „Another Year“ ist in vier Episoden eingeteilt: Frühling, Sommer, Herbst und Winter bilden je den Rahmen für diese vier Kapiteln im Leben von Tom (Jim Broadbent) und Gerri (Ruth Sheen), in denen unterschiedliche Personen im Mittelpunkt stehen. Lediglich Mary (Lesley Manville), eine alleinstehende Arbeitskollegin von Gerri und eine Art in die Jahre gekommene Poppy, taucht in allen Episoden auf. Sie dient, zusammen mit der Arbeit von Tom und Gerri im Schrebergarten, als roter Faden in diesem „weiteren Jahr“ im Leben eines glücklichen Ehepaares.

Bereits die erste Szene von „Another Year“ stellt die souveräne Regiearbeit Mike Leighs unter Beweis: In Nahaufnahme sieht der Zuschauer eine ältere Dame (Imelda Staunton), die über Schlaflosigkeit und mangelndes Glück im Leben klagt. Die von der bekannten britischen Darstellerin gespielte Figur dient aber lediglich dazu, Gerris Arbeit als Psychologin im Gesundheitsamt einzuführen. Auch Toms Arbeit als Geologe für Bauprojekte ist kurz zu sehen – später werden wir erleben, dass Tom nie genug davon erzählen kann. Abends berichten die etwa 60-jährigen Ehepartner einander von ihrem Tag. Unspektakulärer kann ein Film kaum sein. Weil jedoch die Figuren Tiefe erhalten und zudem von vorzüglichen Charakterdarstellern mit beiläufiger Mimik und großartig natürlichen Dialogen verkörpert werden, straft Mike Leigh das Vorurteil Lügen, dass ein alltägliches Sujet den Zuschauer nicht zu fesseln vermag.

Gastfreundschaft gehört zu den ausgeprägten Charaktereigenschaften von Tom und Gerri: Ihr kleines Haus in einem Londoner Vorort steht den Freunden und Verwandten stets offen, mit denen es das Leben nicht so gut meint wie mit ihnen. Dauergast ist wie bereits erwähnt insbesondere Mary, die etwa fünfzigjährige Sekretärin, die ihr leeres Gefühl des Alleinseins mit Unmengen Wein betäubt. Dass sie für den 30-jährigen Joe (Oliver Maltman), den Sohn von Tom und Gerri, offensichtlich gerne mehr als nur „Tante Mary“ wäre und eifersüchtig auf Joes Freundin Katie (Karina Fernandez) reagiert, zieht einige komische Situationen nach sich, die sie aber nie der Lächerlichkeit preisgeben – auch dies eine Stärke der einfühlsamen Regie. Tom und Gerri beherbergen in ihrem Haus im Sommer Toms Jugendfreund Ken (Peter Wight), der sich ebenfalls in Selbstmitleid über die Tragik seines Lebens ergießt und vom verständnisvollen Ehepaar liebevollen Zuspruch erhält. Im Winter nehmen Tom und Gerri Toms Bruder Ronny (David Bradley) mit nach London, nachdem sie in Derby an der Beerdigung von Ronnys plötzlich verstorbener Frau teilgenommen haben. Während das Ehepaar im Schrebergarten arbeitet, taucht unangekündigt und in desolatem Zustand Mary auf. Zwischen ihr und dem wortkargen Witwer entstehen langsam zarte Bande. Marys Gesicht in Großaufnahme spiegelt die leise Ahnung eines neuen Lebensmuts wider.

In blasses Licht getaucht, werden die typisch britisch erdigen Farben in der Winterepisode fast zu Schwarzweiß-Bildern. Die klassische Inszenierung nimmt hin und wieder einen kammerspielartigen Charakter an, der das Schauspieldrama verstärkt, wobei die Kamera von Dick Pope jede kleinste Geste, jeden beiläufigen Blick zurückhaltend einfängt. Diese Leichtigkeit in der Inszenierung erlaubt es Mike Leigh, teilweise beklemmende Themen wie Einsamkeit und Verlust mit einem optimistischen Blick anzusprechen. Durch den Kontrast mit dem schweren Stand ihrer Freunde und Verwandten tritt das kleine Glück von Tom und Gerri umso deutlicher zu Tage – ein Glück, das aus den kleinen Freuden des Alltags in der Familie und in der Arbeit, vor allem aber in der Zuwendung zu den Anderen besteht: Tom und Gerri erfahren Glück, indem sie das Leben anderer Menschen ein wenig glücklicher zu machen versuchen. Gegenüber den gängigen Filmen über dysfunktionale Familien mit kleineren oder größeren Verhaltensstörungen tut ein Film wie „Another Year“ gut, der eine intakte Familie, Menschen, die sich jahrzehntelang die Treue gehalten haben, in den Mittelpunkt stellt.

Mike Leighs „Another Year“ wurde beim letztjährigen Filmfestival von Cannes sowohl vom Publikum als auch von den Kritikern begeistert aufgenommen, ging aber am Ende überraschenderweise leer aus.
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