PICCO | Picco
Filmische Qualität:   
Regie: Philip Koch
Darsteller: Constantin von Jascheroff, Frederick Lau, Martin Kiefer, Joel Basman, Jule Gartzke, Leonie Benesch, Enno Trebs, Ramona Kunze-Libnow
Land, Jahr: Deutschland 2010
Laufzeit: 104 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G +++, D
im Kino: 2/2011
Auf DVD: 10/2011


José García
Foto: movienet

Filme über das Leben im Gefängnis gibt es viele, auch so realistische wie etwa Jacques Audiards „Ein Prophet“ (siehe Filmarchiv), der die Veränderung des Protagonisten in diesem Mikrokosmos meisterhaft nachzeichnet. Ein Spielfilm aber, der einen derart schonungslosen Blick auf die Zustände in deutschen Justizvollzugsanstalten werfen, dass das Hinsehen für den Zuschauer kaum noch erträglich wird, betritt Neuland. Philip Kochs Abschlussfilm an der Hochschule für Film und Fernsehen München „Picco“ füllt nun diese Lücke in geradezu unerbittlicher Weise.

Vier Jugendliche unterhalten sich in einer Sechzehn-Quadratmeter-Zelle. Das Gespräch dreht sich um die Frage, was jeder einzelne tun will, wenn er aus dem Jugendgefängnis herauskommt. Die kameradschaftliche Atmosphäre schlägt jedoch bald um. Hierarchien werden sichtbar: Der 18-jährige Kevin (Constantin von Jascheroff) ist neu in der Jugend-JVA. Aber Kevin nennt ihn hier niemand. Für seine Zellengenossen ist er lediglich der Neue, der „Picco“, der in der Hackordnung ganz unten steht. Ein Picco hat vor allem eins zu tun: den anderen Zellengenossen zu gehorchen. Ob es darum geht, nach dem Essen den Abwasch zu besorgen oder den Fußboden und die Toilette zu reinigen.

Kevin, der ganz normale Junge aus einem bürgerlichen Elternhaus, der bloß bei einer Schlägerei einmal zu viel ausgeteilt hat, kommt in eine ihm völlig unbekannte, abgeschlossene Welt, deren Regeln er zunächst einmal lernen muss. Mit Kevin betritt auch der Zuschauer diesen fremden Kosmos, in dem die Psychologen eigentlich ahnungs- und die Aufseher tatenlos sind, und deshalb unter den Insassen blanker Sozialdarwinismus herrscht. Anfangs versucht Kevin noch gegen das System aufzubegehren. Aber Marcs (Frederick Lau) Muskeln und Andys (Martin Kiefer) Intrigen, der im Hintergrund die Strippen zieht, bringen ihm schnell das Kuschen bei. Vom dritten Zellengenossen, dem labilen Tommy (Joel Basman), der bis Kevins Einlieferung wohl die Rolle des „Picco“ spielen musste und nun in der Hierarchie aufgestiegen ist, lernt er die oberste Regel: Hier ist jeder sich selbst der Nächste. Was sich freilich irgendwann einmal gegen Tommy selbst wenden wird, wenn Kevin kein Opfer mehr sein will und sich in der Nacht, in der die Gewalt zum Unvorstellbaren eskaliert, auf die Seite der Täter schlägt.

„Picco“ basiert auf wahren Begebenheiten, insbesondere aber auf der unfassbaren Tat, die sich in der JVA Siegburg im Jahre 2006 zutrug, als ein jugendlicher Häftling von seinen drei Zellengenossen stundenlang gequält, gefoltert und schließlich ermordet wurde. Regisseur Koch stellt die Spirale der Gewalt nach. Seine in entsättigte, dem Sujet entsprechend sehr kühle Farben getauchten klaustrophobischen Einstellungen gipfeln in der engen Zelle in einem grausigen Kammerspiel. Obwohl Philip Koch diesen Sadismus in keinem Augenblick voyeuristisch ausnutzt und ihn etwa auch nicht durch den Einsatz von überwältigender Musik verstärkt, kann man als Zuschauer berechtigterweise fragen, ob die Gewalt so explizit und in dieser Länge gezeigt werden muss.

Dabei spricht die von „Picco“ gezeigte Gewaltspirale eine eindeutige Sprache, die sich vor allem auf den Gesichtern der Darsteller abspielt. Gegenüber den eher eindimensional angelehnten Figuren des Muskelprotzes Marc und des schüchternen Tommy ragen die Charaktere von Andy und Kevin heraus: Martin Kiefer verkörpert Andy mit einer ruhigen, beinah introvertierten Haltung, die jedoch schlagartig in rohe Brutalität umschlagen kann. Constantin von Jascheroff spielt die komplexe Rolle des Neuankömmlings, dem zunächst die Sympathien des Publikums gelten, weil der Zuschauer das Gefängnis mit seinen Augen betrachtet. Dass das Publikum nach dem Wendepunkt die Identifikationsfigur verliert, gehört zu den dramaturgischen Stärken von „Picco“. Dies findet seine Entsprechung ebenfalls auf der Bildebene: Kevin hat sein unverwechselbares Gesicht verloren. Und wenn es wieder erlangen will, ist es dafür bereits zu spät.

Dadurch verwischt die Rolle des Opfers immer mehr mit der des Täters: „Opfer werden zu Tätern und Täter werden zu Opfern. Bleibt man jedoch Opfer, überlebt man dieses System nicht“, führt etwa dazu Kevins Darsteller Constantin von Jascheroff aus. Das System verführt nicht nur dazu, die schwachen Opfer zu vernichten. Seine verheerende Wirkung entfaltet es gerade deshalb, weil sich eine einzige Chance bietet, um aus der Opferrolle herauszukommen: selbst zum Täter zu werden. Eine Aussage, die gewiss für Diskussionen sorgen wird.

Der ungemein intensive Film „Picco“ wurde als einziger deutscher Beitrag für die Reihe junger Regisseure „Quinzaine des réalisateurs“ beim Internationalen Filmfestival Cannes 2010 ausgewählt. Ausgezeichnet wurde er außerdem unter anderen mit dem Filmpreis des saarländischen Ministerpräsidenten beim Filmfestival Max Ophüls Preis 2010 sowie mit dem Friedenspreis des Deutschen Films (Bernhard Wicki Filmpreis) 2010.
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