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José GarcÃa Foto: Piffl Medien Selten haben in letzter Zeit deutsche historische Kinofilme überzeugt, so dass sich dieses Genre immer mehr im Fernsehprogramm einrichtet. In noch gröÃerem MaÃe als die âkinotauglichenâ Bilder, die ja ein aufwändiges, geradezu opulentes Produktionsdesign erfordern, spielt die Dramaturgie eine unterscheidende Rolle: Im Gegensatz zu der kleinteiligen Erzählung im Fernsehfilm verlangt die Kinosprache nach förmlich groÃen Spannungsbögen, nach organisch entfalteten Handlungssträngen mit âkinoartigemâ Erzählrhythmus. Einer dieser seltenen Fälle ist âPollâ, der neue Spielfilm von Chris Kraus, der vor vier Jahren mit âVier Minutenâ (siehe Filmarchiv) groÃe internationale Erfolge feierte. Poll heiÃt ein deutsches Landgut im Baltikum: Im Sommer 1914, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, zieht dorthin die 14-jährige Oda (Paula Beer) nach dem Tod ihrer Mutter zurück. Oda begleitet die sterblichen Ãberreste ihrer Mutter, bei der sie bis zu deren Tod in Berlin lebte. Auf Poll, dem im seichten Wasser auf Stelzen stehenden Herrenhaus samt antikem Portikus, trifft das sensible, aber temperamentvolle Mädchen auf eine dekadente Gesellschaft. Odas Vater Ebbo von Siering (Edgar Selge) hat sich von der akademischen Welt zurückgezogen, um sich seinen Hirn- und Embryonen-Forschungen im Hauslabor uneingeschränkt zu widmen. Ebbos neue Frau Milla (Jeanette Hein) unterhält eine Affäre mit dem schroffen Verwalter Mechmershausen (Richy Müller), während Cousin Paul (Enno Trebs), junger Kadett der russischen Armee, der ihn abweisenden Oda ungeschickt den Hof macht. Es ist eine Umbruchszeit: Die alte Ordnung, in der die Deutschen die Oberschicht bildeten, wird von den Russen in Frage gestellt. Und die Balten suchen nach einer Möglichkeit, endlich unabhängig zu werden, unter anderem mit den Mitteln des Guerilla-Krieges. Einer dieser estnischen Anarchisten, die von den Russen unerbittlich bekämpft werden, kann sich schwer verwundet in ein verlassenes Nebengebäude des Herrenguts retten. Nachdem sie den Namenlosen (Tambet Tuisk), der sich âSchnapsâ nennt, zufällig entdeckt hat, entscheidet Oda aus einem romantischen Impuls heraus, ihn gesund zu pflegen. Nach und nach verliebt sich die 14-Jährige in den geflohenen Sträfling und verbotenen Autor, mit dem sie aus Poll fliehen will. In diesen Tagen entscheidet sich nicht nur Odas Zukunft. Eine ganze Weltordnung steht unmittelbar vor dem Zusammenbruch. Chris Krausâ âPollâ basiert lose auf den Memoiren der Berliner Autorin Oda Schaefer (1900-1988), in denen sie ihren Kindheitsbesuch in der russischen Ostseeprovinz Estland schildert. Mit der zarten Liebesgeschichte ist der heute gröÃtenteils vergessene historische Hintergrund geschickt verwoben: Ursprünglich zum Missionsland des Deutschen Ordens gehörend, später von der Hanse verwaltet, kam Estland nach dem âGroÃen Nordischen Kriegâ im Jahre 1720 unter russische Herrschaft. Unter dem Zarenreich blieb jedoch die Oberschicht zwei Jahrhunderte lang deutsch, bis Anfang des 20. Jahrhunderts die russische Regierung immer stärkeren Druck auf die Deutschbalten ausübte. 1939 wurden sie dann von den Nationalsozialisten aufgrund einer Vereinbarung im Hitler-Stalin-Pakt ins âDritte Reichâ umgesiedelt. âPollâ verdeutlicht darüber hinaus die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in der Zeit vor dem GroÃen Krieg: Die Herrschaften musizieren im Herrenhaus, widmet sich ihren Studien, machen Picknick am Strand⦠Aber auch die Wissenschaftsgläubigkeit der Zeit wird in der Figur des Hirnforschers deutlich: Mit seiner leicht ins Frankensteinsche gleitenden Experimentierfreunde versucht Ebbo eine Verbindung zwischen dem Gehirn und der moralischen Veranlagung zu finden. Die Auseinandersetzung zwischen Determinismus und freiem Willen lässt sich in solchen Szenen erahnen. Aber âPollâ überzeugt auch filmisch: vom bestechenden Produktionsdesign mit dem Herrenhaus als besonderem Blickfang über die Kostüme und die groÃartigen Panoramabilder der Kamerafrau Daniela Knapp bis zum intelligenten Erzählrhythmus. Nicht ganz überzeugend freilich: die pathosgeladene Filmmusik von Annette Focks, die sich immer wieder zu sehr in den Vordergrund schiebt. Die guten schauspielerischen Leistungen runden ein stimmiges Historiengemälde ab: Edgar Selge verkörpert den gefühlskalten Wissenschaftsfanatiker Ebbo von Sierig glaubwürdig. Vor allem aber die zur Drehzeit erst 14-jährige Paula Beer überzeugt mit einer Mischung aus kindlicher Neugier, altkluger Wissensbegier und starker Persönlichkeit. Für ihre erste Kinorolle gewann sie bereits den Bayerischen Filmpreis als beste Nachwuchsschauspielerin. |
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