KINDER VON PARIS, DIE | La rafle
Filmische Qualität:   
Regie: Rose Bosch
Darsteller: Jean Reno, Mélanie Laurent, Hugo Leverdez, Gad Elmaleh, Raphaëlle Agogué, Oliver Cywie, Mathieu Di Concerto, Romain Di Concerto, Sylvie Testud
Land, Jahr: Frankreich 2010
Laufzeit: 120 Minuten
Genre: Historische Filme
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: G
im Kino: 2/2011
Auf DVD: 8/2011


José García
Foto: Constantin

Hitlers willige Helfer gab es nicht nur in Deutschland. Nicht nur in Deutschland schauten Millionen Menschen einfach weg, stellten sich keine „unangenehmen“ Fragen, wenn auf einmal bestimmte Menschen nur noch mit einem deutlich zu sehenden gelben Stern auf die Straße, und sich in immer weniger öffentlichen wie privaten Räumen aufhalten durften. „Juden Zutritt verboten“ prangte in halb Europa in verschiedenen Sprachen.

Im vom Nazideutschland besetzten Frankreich beispielsweise hieß es „Interdit aux Juifs“. Nicht nur in Deutschland fragten sich offensichtlich viel zu wenige „brave Bürger“, was aus den plötzlich verschwundenen jüdischen Nachbarn geworden war. Dass sie „einfach“ verschwanden, sofern sie nicht im Einzelfall von beherzten, ihr eigenes Leben riskierenden Mitbürgern rechtzeitig versteckt wurden, ist auf die systematischen Massendeportationen von Juden aus dem Deutschen Reich sowie aus den besetzten Ländern zurückzuführen, die bereits Mitte Oktober 1941 begannen und deren Organisation mit der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 bis ins kleinste Detail festgelegt wurde. Ist dies alles allgemein bekannt, so gehört die Judendeportation aus dem Großraum Paris zu den eher verdrängten Kapiteln der Geschichte. Erst 1995 räumte der damalige französische Staatspräsident Jacques Chirac die Verantwortung Frankreichs an der Shoah im Allgemeinen und an der „Rafle du Vel' d'Hiv'“ („Razzia des Winter-Velodroms“) im Besonderen ein: Am 16. Juli 1942 verhafteten französische Polizisten im Auftrag der Vichy-Regierung 13 152 jüdische Männer, Frauen und Kinder, von denen etwa 7 000 in die Radsporthalle „Vélodrome d'hiver“ verschleppt wurden, wo sie tagelang bei unerträglicher Hitze ohne Trinkwasser und unter schlimmsten sanitären Verhältnissen ausharren mussten.

Von dort wurden sie in ein Konzentrationslager südlich von Paris und dann in die Vernichtungslager gebracht. Von den 13 152 verhafteten Juden kehrten nach Kriegsende nur 250 Erwachsene zurück. Alle 4 051 Kinder starben. Da aber im Großraum Paris etwa 28 000 Juden lebten, konnten sich dank der Unterstützung durch mutige Franzosen annähernd 15 000 Menschen retten. Über diesen dunklen Abschnitt der französischen Geschichte hat nun Rose Bosch den Spielfilm „La Rafle“ (Die Razzia) gedreht, der im deutschen Kino allerdings mit dem eher nichtssagenden Verleihnamen „Die Kinder von Paris“ startet.

Boschs Film beginnt mit den bekannten Dokumentaraufnahmen von Hitlers Fahrt durch das menschenleere Paris nach dem Sieg der Wehrmacht über Frankreich. Die grobkörnigen, schwarzweißen Aufnahmen gehen in Farbbilder über: Bei einem Karussell unter der Basilika Sacré Coeur bleibt der elfjährige Joseph Weismann (Hugo Leverdez) stehen.
Die Kamera folgt dem Jungen mit dem Judenstern, der nicht Karussell fahren darf, nach Hause zu Vater Schmuel (Gad Elmaleh), Mutter Sura (Raphaëlle Agogué) und den Schwestern Rachel (Rebecca Marder) und Charlotte (Charlotte Driesen). Ist die jüngere Charlotte untröstlich, weil sie nicht am Ballettunterricht teilnehmen darf, so wirft die Ältere dem Vater Untätigkeit vor. Sie sollten längst geflüchtet sein. Vater Schmuel spielt die Gefahr herunter: In seinem Heimatland Polen gelte Frankreich als Zufluchtsort für die Juden.
„Die Kinder von Paris“ nimmt den Standpunkt von Joseph und seinen kleinen Freunden, insbesondere dem fünfjährigen Nono (Mathieu und Romain Di Concerto) und dessen Bruder Simon (Oliver Cywie), ein. Dies wird etwa dadurch unterstrichen, dass die Kamera häufig mit ihnen auf Augenhöhe bleibt: Sie versuchen mit ihrem kindlichen Verstand das Unerklärbare zu verstehen. Später, als die Familie Weismann in die Radsporthalle gebracht wird, treten ins Blickfeld des Zuschauers zwei Erwachsene: der Arzt Dr. Sheinbaum (Jean Reno), der selbst zu den Verhafteten gehört, sowie die evangelische Rotkreuzschwester Annette Monod (Mélanie Laurent), die eine Art schlechtes Gewissen der französischen Bevölkerung verkörpert.

Ist dieser Perspektivenwechsel dramaturgisch bereits nicht ganz gelungen, so misslingt der Regie die Verknüpfung mit der „großen Politik“ vollends: Die Szenen mit Marschall Pétain, dem Chef des Vichy-Regimes, etwa bei einem Treffen mit Hitler, wirken wie ein Fremdkörper im Film. Trotz aller klischeehaften Darstellung der „bösen“ Polizisten und der „guten“ Feuerwehrmänner, die in der Radsporthalle dadurch ein Zeichen der Menschlichkeit setzen, dass sie gegen die ausdrücklichen Anweisungen der Polizei die Inhaftierten mit Trinkwasser versorgen, gelingt es Rose Bosch jedoch, das Unfassbare in teils monumentale, teils intime Bilder zu fassen.

„La Rafle“ lockte in Frankreich drei Millionen Besucher in die Kinos. Damit trägt Boschs Film zur Aufarbeitung eines lange Zeit verdrängten, dunklen Kapitels der französischen und europäischen Geschichte bei.
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