LA LISIÈRE – AM WALDRAND | La Lisière
Filmische Qualität:   
Regie: Geraldine Bajard
Darsteller: Melvil Poupaud, Audrey Marnay, Hippolyte Girardot, Phénix Brossard, Alice de Jode, Delphine Chuillot, Elias Borst-Schumann
Land, Jahr: Frankreich / Deutschland 2010
Laufzeit: 100 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 4/2011
Auf DVD: 7/2012


José García
Foto: realfiction

Vor sechs Jahren beobachtete ein französischer Spielfilm das Leben Jugendlicher in der geschlossenen Welt einer Plattenbausiedlung in einem Pariser Vorort. Handelte Abdellatif Kechiches „L’Esquive“ (siehe Filmarchiv) insbesondere auch von Migrantenkindern in einem gesichtlosen Niemandsland zwischen der Großstadt und dem Land, so verlagert das Spielfilmdebüt der französischen Regisseurin Geraldine Bajard den Handlungsort in eine schmucke, am Waldrand gelegene Neubausiedlung. Der Ort, an dem sich „La Lisière – Am Waldrand“ abspielt, hat zwar auf den ersten Blick mit einem sozialen Brennpunkt nichts gemeinsam. Der Gedanke, dass die dort lebenden Jugendlichen auch ohne „Migrationshintergrund“ irgendeine Art geschlossene Gesellschaft mit eigenen Gesetzen bilden, bleibt jedoch erhalten.

Zunächst einmal sind nur verwackelte, sehr dunkle, lediglich von Originaltönen begleitete Bilder zu sehen. Weil auch die Schnittfolge kaum verständlich wirkt, fällt es dem Zuschauer schwer einzuordnen, was er gesehen hat: ein Mädchen in Kinderschuhen, mit einem enganliegenden, glitzernden Rock und einer hellblonden Perücke. Als ein Auto anhält, steigt ein erwachsener Mann aus, der hinter dem Mädchen her in den Wald hinein rennt. Dann folgt ein scharfer Schnitt. Wohl am nächsten Morgen entdeckt ein Arbeiter einen leblosen Körper am Waldrand. Was genau geschehen ist, wird lange in der Schwebe bleiben. Denn dies war lediglich eine Art Prolog.

Erst dann wird die Hauptfigur eingeführt: François (Melvil Poupaud) kommt aus Paris, um im Auftrag einer Finanzgruppe die medizinische Versorgung der Siedlung „Beauval“ zu übernehmen. Dort hat zwar das Sagen der Manager der Investorengruppe (Hippolyte Girardot), der mit seiner Frau im größten und schönsten Haus von Beauval wohnt. Aber das kümmert die Jugendlichen überhaupt nicht. Diese befolgen eher die Regeln, die vom charismatischen Cédric (Phénix Brossard) und seinem Vertrauten Matthieu diktiert werden. François gerät sofort in den Blickpunkt der Clique. Bei den Mädchen, vor allem bei der 14-jährigen Claire (Alice de Jode), löst der gut aussehende Arzt schwärmerische Fantasien aus. Die Mädchen simulieren Krankheiten und lassen den Arzt der Reihe nach zu nächtlichen Hausbesuchen antreten. Die Jungs betrachten ihn als Eindringling und provozieren ihn bei jeder Gelegenheit mit unverhohlener Feindseligkeit. Bei den regelmäßig stattfindenden Treffen im Wald treibt Cédric vor allem die Mädchen zu immer gefährlicher werdenden Mutproben an. Bei einem dieser Spiele wird Matthieus 12-jährige Schwester Agnès von einem Auto überfahren, dessen Fahrer unerkannt flüchtet. Während die Polizei im Dunkeln tappt, nehmen Cédric und Matthieu den jungen Arzt ins Visier. Dass sie sich an ihm rächen wollen, wird schnell klar – der immer unsicherer agierende François scheint kaum etwas dagegen ausrichten zu können.

Drehbuchautorin und Regisseurin Géraldine Bajard baut nicht so sehr auf der erzählerischen als vielmehr auf der Bild- und Musikebene Spannung auf, wobei sich die Filmmusik entsprechend den jugendlichen Protagonisten durch jugendhafte Klänge auszeichnet. Dadurch entsteht eine bedrohliche Stimmung, die dem Zuschauer signalisiert, dass irgendetwas Schlimmes passieren muss. Trotzdem lässt der Film vieles in der Schwebe. „La Lisière – Am Waldrand“ setzt eine spröde Filmsprache ein: Die verschwommenen und unterkühlten Bilder sowie der lakonische Erzählstil, der offensichtlich bewusst Unsicherheit in der Wahrnehmung durch den Zuschauer hervorruft, besitzen Ähnlichkeiten etwa mit Christian Petzolds „Yella“ (2007) oder allgemeiner mit dem, was als „Berliner Schule“ bezeichnet wird. Kein Wunder: Geraldine Bajard studierte an der Berliner Filmakademie.

Ließ etwa der eingangs erwähnte Film von Abdellatif Kechiche „L’Esquive“ den Schluss zu, dass selbst in einem sozialen Brennpunkt Platz genug für Hoffnung sein kann, so vertritt „La Lisière – Am Waldrand“ einen pessimistischeren Standpunkt: In der scheinbar abgesicherten Gesellschaft einer gepflegten Neubausiedlung brechen sich die unkontrollierten Triebe der Jugendlichen Bahn. In der subtil inszenierten Eskalation der Mutproben „am Waldrand“ kommt die Verletzlichkeit einer Gesellschaft, die alles zu kontrollieren meinte, symbolisch zum Ausdruck.
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