LANDARZT VON CHAUSSY, DER | Médecin de campagne
Filmische Qualität:   
Regie: Thomas Litli
Darsteller: François Cluzet, Marianne Denicourt, Isabelle Sadoyan, Félix Moati, Christophe Odent, Patrick Descamps, Guy Faucher, Margaux Fabre
Land, Jahr: Frankreich 2015
Laufzeit: 102 Minuten
Genre:
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 9/2016
Auf DVD: 2/2017


José García
Foto: Alamode

Ein Mann mittleren Alters wird einer Magnetresonanztomographie unterzogen. Der niederschmetternde MRT-Befund: ein inoperabler Tumor im linken Schläfenlappen. Was das bedeutet, weiß der Patient nur allzu gut. Denn Jean-Pierre Werner (François Cluzet) ist selbst Arzt, "Médecin de Campagne", so der Originaltitel des Spielfilms von Thomas Lilti "Der Landarzt von Chaussy".

Wie seine Arbeit im Einzelnen aussieht, verdeutlicht eine schnellgeschnittene Sequenz. Obwohl ihm der behandelnde, mit ihm befreundete Kollege Michel Nores (Christophe Odent) geraten hatte, nicht nur sofort mit der Chemotherapie zu beginnen, die gute Heilungschancen böte, sondern auch sich mehr Ruhe zu gönnen, stürzt sich Jean-Pierre sofort wieder in die Arbeit. Er fährt übers Land von Patient zu Patient, etwa zu einem älteren Bauern, zu verschiedenen Familien und auch zu seiner verwitweten Mutter (Isabelle Sadoyan), die im Haushalt Hilfe braucht. Und wenn Dr. Werner zur Landarztpraxis zurückkehrt, erwartet ihn ein volles Wartezimmer. Seine eigene Krankheit behält er lieber für sich.

Wenigstens eines hat Michel Nores erreicht: Am späten Abend stellt sich eine Frau bei Dr. Werner in der Praxis als von Nores geschickte Unterstützung vor. Nathalie Delezia (Marianne Denicourt) ist nicht mehr die Jüngste, obwohl sie erst vor kurzem das Medizinstudium abgeschlossen hat. Denn zuvor arbeitete sie zehn Jahre lang als Krankenschwester. Diese Erfahrung und der Notarztkurs könnten auf dem Land wirklich helfen. Dennoch will Jean-Pierre keine Hilfe. Deshalb gibt er ihr nur widerwillig eine Chance. Nathalie möchte jedoch unbedingt diese Chance nutzen, weil sie wieder auf dem Land leben und im schon lange verwaisten Elternhaus wohnen möchte.

Da Jean-Pierre seit Jahrzehnten offenbar alleine lebt - seine Frau verließ ihn vor langer Zeit und zog mit dem gemeinsamen Sohn nach Paris - und auch arbeitet, empfindet er Nathalies Hilfe eher als Einmischung in sein Revier, das nordfranzösische Département Val-dOise um die 600 Seelen-Gemeinde Chaussy. Deshalb stellt er Nathalie immer wieder auf die Probe. Zu einem regelrechten Streit kommt es dann, als bei einer Abwesenheit Jean-Pierres Nathalie den 92-jährigen bettlägerigen Sorlin (Guy Faucher) ins Krankenhaus einweist. Jean-Pierre hatte dem alten Mann versprochen, dass er nie mehr ins Krankenhaus müsse, weil das Krankenhaus ihn nur noch kränker mache. Seit zwei Jahren wird Monsieur Sorlin dank Jean-Pierres Engagements und der Unterstützung von Pflegekräften aus dem Dorf die Pflege zuhause ermöglicht. Daraufhin weist Jean-Pierre Nathalie die Tür. Aber dann erleidet der Bürgermeister einen Unfall. Der von ihm gerufene Jean-Pierre versucht, ihn zu versorgen. Verzweifelt wendet sich der Arzt an Nathalie. Mit ihren Notfall-Kenntnissen stabilisiert sie den Bürgermeister. Damit gewinnt sie den Respekt Jean-Pierres. Vielleicht ist sie doch nicht nur dazu da, um ihn "zu nerven".

Mitdrehbuchautor und Regisseur Thomas Lilti war selbst Arzt, ehe er sich dem Filmemachen zuwendete. Und er arbeitete auch in ländlichen Gegenden: "Die Jahre, in denen ich als junger Assistenzarzt immer wieder Landärzte zu vertreten hatte, die praktisch über alles in ihrer Umgebung Bescheid wussten, empfand ich als ungeheuer bereichernd", führt er dazu aus. Mit "Der Landarzt von Chaussy" setzt Lilti einem - auch in Deutschland - vom Aussterben bedrohten Beruf ein filmisches Denkmal.

Die Kamera von Nicolas Gaurin fängt die herbe, fast raue Landschaft der Gegend nordwestlich von Paris, die zur Region Île-de-France gehört, ein. Und er porträtiert die dort lebenden Menschen als ebenso herb, aber mit großem Herzen ? siehe die Klimmzüge, die nötig sind, um Monsieur Sorins Pflege zu ermöglichen. "Der Landarzt von Chaussy" kritisiert zwar auch die Lücken in der öffentlichen Gesundheitsversorgung und den Hang der Politiker, mit größenwahnsinnigen Projekten oberflächliche Lösungen anzubieten. Litlis Film ist allerdings kein sozialkritisches Kino in der Art der Filme des britischen Regisseurs Ken Loach, sondern eher ein Film über Menschen, die sich für andere einsetzen. Darin erinnert er an Another Year, in dem Mike Leigh auf das Glück hinweist, das aus den kleinen Freuden des Alltags in der Arbeit, vor allem aber in der Zuwendung zu den Anderen besteht.

Genau das tut Jean-Pierre offensichtlich seit Jahrzehnten. Und das will nun auch Nathalie tun - auch wenn sie noch Einiges dazulernen muss, beispielweise den Patienten besser zuzuhören. Erste Fortschritte erzielt Nathalie denn auch, wenn sie diesen Rat beim jungen Autisten Alexis (Yohann Goetzman) anwendet, der stundenlang von seinem Steckenpferd, dem Ersten Weltkrieg, erzählt.

In "Der Idiot" sinniert Dostojewski: "Was soll der Romanschriftsteller mit den Alltagsmenschen, den ganz ´gewöhnlichen´ Leuten, anfangen und wie soll er sie dem Leser vorführen, um sie ihm einigermaßen interessant zu machen? Wollte man einen Roman, um Interesse zu erregen, nur mit scharf ausgeprägten Charakteren oder gar nur mit seltsamen, nie dagewesenen Persönlichkeiten anfüllen, so würde man damit gegen die Wahrscheinlichkeit verstoßen und vielleicht sogar uninteressant werden. Unserer Ansicht nach muss sich der Schriftsteller bemühen, auch bei den Alltagsmenschen interessante und lehrreiche Seiten herauszufinden." Das, was als hohe Kunst des Filmemachens bezeichnet werden könnte, schaffen die allerwenigsten Filme. "Der Landarzt von Chaussy" gehört auf jeden Fall zu ihnen.
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